Kurier

Wichtigste Nagelerzeu­gung Europas

Um 1500 produziert­en 200 Meister, 600 Gesellen und 300 Lehrlinge 4,5 Millionen Nägel pro Woche

- KURIER-SERIE VON JOSEF LEITNER

„Auf den Hund gekommen“ist eine der Redewendun­gen, deren Sinn sich auf der Reise in die handwerkli­che und industriel­le Vergangenh­eit Losenstein­s erschließt. Wir stehen vor der Zunfttruhe der Nagelschmi­ede, die sich im Nagelschmi­edmuseum im Ortszentru­m befindet. In der 70 cm langen Holzkiste wurden Handwerkso­rdnung, Zeugnisse, Lehrbriefe und Rechnungen aufbewahrt. Ganz unten befand sich Geld, das für die Unterstütz­ung notleidend­er Gesellen vorgesehen war. Falls alles Geld aufgebrauc­ht war, tauchte eine auf der Innenseite des Bodens gemalte Hundefigur auf. Man war also mangels weiterer finanziell­er Mittel „auf den Hund gekommen“.

3500 Einwohner

Losenstein war jahrzehnte­lang der wichtigste Ort der Nagelerzeu­gung in Mitteleuro­pa und gewisserma­ßen die Perle des Ennstales. „Um 1500 gab es rund 200 Meister, 600 Gesellen und 300 Lehrlinge bei einer Bevölkerun­g von etwa 3500 Menschen. Jede Woche wurden 4,5 Millionen Nägel geschmiede­t“, erzählt Bernhard Blasl, Mitglied des örtlichen Kulturvere­ins.

Bemerkensw­ert sind die Totenschil­de, die den Sarg eines verstorben­en Nagelschmi­eds zierten. Grimmige Teufelsges­talten bewachen die in der Höllenglut leidenden Sünder. Daneben wurde eine prunkvolle Totenkrone platziert. Eine Tradition, die von 1450 bis 1956 währte, als mit Johann Hatschenbe­rger der letzte Nagelschmi­ed in Pension ging. Die maschinell­e Herstellun­g der Nägel war dann einfach billiger als die Handfertig­ung.

Wir begeben uns auf den Nagelschmi­edweg, der uns recht anschaulic­h in die Welt des alten Schmiedeha­ndwerks führt. Zunächst treffen wir auf die

Schlosstav­erne, die unmittelba­r unter der das Ortsbild beherrsche­nden Burgruine liegt. Hier befand sich das Zunftlokal der Nagelschmi­ede und lässt – jetzt prächtig renoviert – auch auf eine wohlhabend­e Vergangenh­eit schließen. Wir passieren ein Originalst­ück der Alten Eisenstraß­e, die bis 1957 die einzige Straßenver­bindung durch das Ennstal war. Den weiteren Streckenab­schnitt, „Höll“genannt, hat das 1962 errichtete Kraftwerk Losenstein mit den darin befindlich­en Schmiedeba­uten überflutet.

Arbeitsbeg­inn um vier

Im Stiedelsba­chtal erreichen wir nach etwa zwei Kilometern die „Brandstätt­er Schmiede“. Alles hier befindet sich im Originalzu­stand. Jederzeit kann die Esse entzündet und der mit Wasserkraf­t angetriebe­ne Hammer in Betrieb genommen werden. Tatsächlic­h arbeitete hier ein Meister, fünf Gesellen und zwei Lehrlinge. Ihr Tagwerk begann um vier Uhr früh und dauerte bis sieben Uhr abends. Zum Frühstück gab es eine Specksuppe, zu Mittag Mehlspeise­n und nur alle 14 Tage Fleisch. Das Abendessen bestand aus Kraut, Milch und Brennkoch. Angeblich wurden bei der Arbeit auch Lieder gesungen. Das Lied

„Mir san ja die lustigen Hammerschi­edgsölln“erinnert heute noch daran. Das Museum im Oberstock zeigt die Vielfalt der aus den Eisenstäbe­n geschmiede­ten Nägeln: 30 unterschie­dliche Nagelarten wurden gefertigt.

Nagel mit 1,5 m Länge

Der beeindruck­endste ist wohl der eineinhalb Meter lange „Schlachtna­gel“, ein Riesennage­l, der zur Verankerun­g von Baumstämme­n für Wehranlage­n verwendet wurde. Die weitere Palette reichte von Schiffsnäg­eln, Hufnägeln für Pferde und Ochsen, Schienennä­geln für Eisenbahne­n, Rahmnägeln für Fensterbes­chläge, Schlossnäg­eln für Türschlöss­er bis zu den Schuhnägel­n mit kuriosen Bezeichnun­gen wie Mausköpfl und Scheanken. Vertrieben wurden die Nägel bis nach Wien, Budapest, Belgrad und Venedig.

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Die Schlosstav­erne war der Sitz der Zunft der Nagelschmi­ede, links das Totenschil­d
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