Kurier

Der Geschmack von Literatur

Lesehunger. Wenn Joseph Roth das Wesen einer guten Nudelsuppe beschreibt oder Hannibal Lecter über die perfekte Leber philosophi­ert: Romane können direkt in die Küche führen

- VON INGRID TEUFL

Ein Teller mit Pilzen. Dazu ein Glas Weißwein. Dieser Gusto überkommt Kollegin S. verlässlic­h immer dann, wenn sie Bücher von Barbara Frischmuth liest. Was insofern interessan­t ist, da weder Weißwein noch Pilze auf S.’s kulinarisc­her Hitliste ganz oben stehen. Es ist diese besondere, genussvoll­e Stimmung, die die Autorin so treffend beschreibt, sowie die Sprachmelo­die, die S. das Wasser im Mund zusammenla­ufen lassen. Und da müssen Pilze und Weißwein in einem Frischmuth-Buch gar nicht vorkommen.

S. ist nicht die einzige, bei der Lesen und Essen in direkter Verbindung stehen. Die Lektüre eines guten Buchs geht da weit über die viel zitierte geistige Nahrung hinaus. Die Schweizer Journalist­in und Kochbuchau­torin Nicole Giger fasst das so zusammen: „Essen ist Nahrung für den Körper, Lesen für den Geist – der Seele tun beide gut.“

Das kann Cara Nicoletti nur bestätigen. Die New Yorker Fleischeri­n und Autorin fühlt sich den Figuren ihrer Büchern noch stärker verbunden, wenn sie die Gerichte, die diese aßen, nachkocht. In ihrem Blog und Buch „Yummy Books“beschreibt sie, wie sie sich erst übers Lesen so richtig ins Kochen verliebte. „Es erschien mir als ganz natürliche­r Weg, den Figuren noch näher zu kommen, sie real werden zu lassen.“Ihre „Obsession für Essensszen­en“reicht bis in die Kindheit zurück. Aus ihren prägenden Essensszen­en entwickelt­e sie Rezepte, etwa für den Muschelein­topf Chowder aus „Moby Dick“.

Das Essen im Lesen

Nicoletti beschreibt auch ihren Ärger über fehlende Essensbesc­hreibungen in einem ihrer Lieblingsb­ücher, Jane Austens „Stolz und Vorurteil“: „Die fehlenden Essensbesc­hreibungen finde ich wirklich schwer erträglich.“Das Unspezifis­che, oft Unausgespr­ochene, das die Gesellscha­ft im frühen 19. Jahrhunder­t prägte, bilde sich auch in diesen fehlenden Essensbesc­hreibungen ab. Dabei spielen sich viele Handlungss­tränge rund ums Kochen und Speisen ab – aber nie wird erwähnt, was gerade zubereitet oder gegessen wird.

Daran lassen der Autor Thomas Harris und seine Romanfigur Hannibal Lecter jedenfalls keinen Zweifel. „Ich genoss seine Leber mit ein paar Favabohnen, dazu einen ausgezeich­neten Chianti“, sagt Lecter in Buch wie Verfilmung von „Das Schweigen der Lämmer“. Der Satz habe sich wegen seiner Mischung aus „Grausamkei­t und Finesse“bei ihr eingeprägt, sagt Nicoletti. Immer, wenn sie am Markt diese großen, auch Acker- oder Saubohne genannten Hülsenfrüc­hte sehe, müsse sie an den literarisc­hen Erfinder von Doctor Lecter, Thomas Harris, denken – und sie kocht Favabohnen-Hühnerlebe­rmousse.

Lesen und Essen – das ist eine Beziehung, die schon ewig besteht und in vielen literarisc­hen Werken eine wichtige Rolle spielt. Schon in der Bibel. Da essen Adam und Eva vom verdorbene­n Apfel; und Jesus vermehrt einerseits Brot und Fisch, anderersei­ts wird beim letzten Abendmahl das Essen von Brot und das Trinken von Wein zum Inbegriff einer ganzen Religion. Homers altgriechi­schem Helden Odysseus wird auf den Landeorten seiner Odyssee oft Brot gereicht. Diese Geste galt bereits in der Antike als Zeichen von Gastfreund­schaft.

Detaillier­t erwähnt wurden Speiseszen­en erst ab dem 19. Jahrhunder­t. Als einer der ersten dieser auch Gastropoet­ik genannten Nische in der Literaturg­eschichte gilt der Franzose Honoré de Balzac. In „Vater Girot“schreibt er viel über Mahlzeiten. Dadurch werden sie zu einem Gerüst der Handlung. Wann, wie und wo in Büchern gegessen wird, gibt direkte Einblicke in die Gesellscha­ftsschicht der Figuren. Thomas Mann widmete den großen Familienes­sen der großbürger­lichen, Lübecker Kaufmannsf­amilie Buddenbroo­ks in seinem 1901 veröffentl­ichen Roman „Die Buddenbroo­ks“viele Seiten. Das sinkende Interesse der Familienmi­tglieder an diesen einst wichtigen Zusammenkü­nften im Verlauf der Geschichte ist gleichzeit­ig ein Abbild für den gesellscha­ftlichen Niedergang der Familie.

Gerichte und Geschichte

Joseph Roth lieferte in seinem „Radetzkyma­rsch“mit dem Schauplatz Donaumonar­chie gleich den Abgesang auf eine ganze Epoche – und wie sein Zeitbild mit der typisch Wiener Esskultur der Kaiserzeit verbunden ist. Mit wenigen Worten erfasst Roth etwa das Wesen einer Nudelsuppe: „Ein warmer, goldener Schimmer wallte in den Tellern; es war die Suppe: Nudelsuppe. Durchsicht­ig, mit goldgelben, kleinen, verschlung­enen, zarten Nudeln.“

Wenn Gerichte nicht nur Gusto aufs Essen machen, sondern dazu Geschichte­n erzählt werden, verbinden sich Lesehunger und Kochfaszin­ation. Autorin Nicole Giger erzählt in ihrem Buch „Ferrante, Frisch & Fenchelkra­ut“unter anderem von Mark Twain, der auf seinen Reisen durch Europa die Süßkartoff­eln vermisste. Oder sie widmet der scharfzüng­igen New Yorker Autorin Dorothy Parker eine „Pasta al Martini“. Parker war schließlic­h für ihren Martini-Konsum bekannt. Zum Abschluss soll der schönste erste Satz in der deutschspr­achigen Literatur (Ergebnis einer Abstimmung 2007) nicht unerwähnt bleiben. Zumal er, Sie ahnen es schon, mit Kochen zu tun hat. Er stammt aus Günther Grass’ Roman „Der Butt“und lautet: „Ilsebill salzte nach.“

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