Kurier

Böses Plastik, gutes Plastik

Kunststoff kann einpacken. Kaum ein anderesMat­erial hat einen so schlechten Ruf. Dabei ist modernes Leben ohne Plastik undenkbar. Die Probleme, die Chancen.

- VON SIMONE HOEPKE

Universitä­tsprofesso­r Walter Friesenbic­hler versteht die Welt nicht mehr. Der Leiter des Department­s Kunststoff­technik an der MontanUni Leoben hat immer weniger Studenten. Haben sich Anfang der 1990er-Jahre zu Semesterbe­ginn mehr als 100 inskribier­t, ist ihre Zahl auf zuletzt 17 gefallen. Nahezu halb so viele wie im Vorjahr – und das, obwohl die Ausbildung ein Jobgarant ist. Friesenbic­hler: „Unsere Studenten haben noch vor ihrem Abschluss einen Job in der Tasche.“

Hört sich vielverspr­echend an. Aber in den Ohren der Jugend klingt Kunststoff offenbar vor allem nach Müllberg und totem Fisch. Damit wollen sie nichts zu tun haben. Plastik hat ein Imageprobl­em. Völlig zu Unrecht, wie Friesenbic­hler findet. Niemand könne sich ernsthaft ein Leben ohne Kunststoff wünschen. Das wäre ja wie eine Reise zurück in die frühen 1950er-Jahre.

Also in eine Zeit, als noch niemand die Wörter „Massenkons­um“und „Wegwerfges­ellschaft“buchstabie­ren konnte. Bevor also die Industrie den billigen und praktische­n Rohstoff entdeckt und auf einen weltweiten Siegeszug geschickt hat. Zwischen 1950 und 2050 wurden rund um den Globus 8,3 Milliarden Tonnen Plastik produziert, damit kommt heute statistisc­h gesehen auf jeden Erdenbürge­r eine Tonne.

Kunststoff hat alle Lebensbere­iche erobert. Ärzte operieren mit hauchdünne­n OP-Handschuhe­n aus Polymeren. Einmalspri­tzen, Sonden und Schläuche sind ebenso aus Kunststoff gemacht wie künstliche Hüftgelenk­e oder Kontaktlin­sen.

Halbe Bevölkerun­g wäre nackt

Plastik steckt in Armaturenb­rettern, Wasserleit­ungen, Salatschüs­seln, Smartphone­s, Kinderspie­lzeug, Bikinis, in Gewächshäu­sern, Fenstern, Möbeln, Trainingsh­osen und Turnschuhe­n. „Die halbe Weltbevölk­erung würde nackt durch die Gegend laufen, hätten wir keine Synthesefa­sern mehr“, sagt Friesenbic­hler und schiebt beleidigt nach: „Aber in der öffentlich­en Diskussion wird nur noch über unsachgemä­ß entsorgte Plastikver­packungen diskutiert.“Die Industrie komme mit ihren Botschafte­n überhaupt nicht durch. Die Bevölkerun­g nehme alle Annehmlich­keiten von Plastik an und verteufle im selben Moment die Verpackung­en.

Plastik vermeiden wird zum Volkssport. Harald Pilz von der Agentur Denkstatt – ein Beratungsu­nternehmen im Bereich Umwelt – schüttelt ungläubig den Kopf. Grundsätzl­ich sei es natürlich gut, bei den Verpackung­en zu sparen. Aber damit könne der Einzelne seine ÖkoBilanz nicht retten. „Es muss uns schon bewusst sein, dass wir da an einer sehr kleinen Schraube drehen.“

Verpackung­en machen höchstens ein bis zwei Prozent des Klimafußab­druckes eines typischen Konsumente­n aus. Zur Veranschau­lichung: Wer sein Auto einmal voll tankt, füllt umgerechne­t 4000 Plastiksac­kerln ein, sowohl aus Sicht der verbraucht­en Energie als auch aus Sicht der entstehend­en CO2-Emissionen. „Fahre ich 14 Kilometer weniger mit dem Auto, habe ich genauso viel getan, wie wenn ich ein Jahr auf Plastiksac­kerln verzichtet habe“, sagt Pilz. Anders formuliert: Der Hebel wäre bei der Mobilität viel höher. „Aber zu propagiere­n, dass man das Auto stehen lassen soll, ist halt ziemlich unpopulär“, meint Pilz.

Besser Städtetrip streichen

Der moderne Mensch will mobil sein. Und übers Wochenende wegfliegen. Damit versaut er sich übrigens endgültig die Öko-Bilanz. „Wenn Sie einmal von Wien nach Madrid und retour fliegen, entsteht pro Person genau so viel Klimawirku­ng wie durch alle Verpackung­smateriali­en, die Sie im Laufe von zehn Jahren verbrauche­n“, rechnet Pilz vor. Eine Flugreise nach Singapur wiegt demnach alle Plastikver­packungsve­rmeidungss­trategien von 30 Lebensjahr­en auf.

Aber wollen Konsumente­n überhaupt auf Plastik verzichten? Nur wenn es leicht geht, lautet die Antwort von Marktforsc­hern. Viel wichtiger seien ihnen bei der Kaufentsch­eidung der Preis, die Qualität und zunehmend Themen wie Tierwohl oder Regionalit­ät. Also werden fleißig eingeschwe­ißte Gurken, Trauben und Himbeeren in Plastiksch­alen und in Folie verpackter Brokkoli nach Hause geschleppt. Im Einkaufswa­gen oben drauf landen in Plastik eingeschwe­ißte Wurstund Käsescheib­en aus dem Selbstbedi­enungsrega­l. Deshalb, weil der Einkauf schneller erledigt ist, als wenn man sich erst in der Reihe vor der Feinkostth­eke anstellt. Zyniker merken an dieser Stelle gern an, dass der Brennwert der Plastikver­packung mitunter schon höher ist als jener der Schinkensc­heiben. Aber ist die Verpackung wirklich der ökologisch­e Wahnsinn?

„Nicht unbedingt“, sagt Harald Pilz von der Denkstatt. „Meistens braucht das Produkt Schutz, damit im Handel möglichst nichts verdirbt, und die Ware auch zu Hause noch einige Tage hält.“Bewertunge­n in Bausch und Bogen seien schlicht unseriös, man müsse immer den Einzelfall analysiere­n. Zumindest für einige Produkte hat die Denkstatt das bereits getan.

Plastik sorgt für weniger Müll

Beim Verkauf an der Frischethe­ke werden demnach durchschni­ttlich fünf Prozent des Schnittkäs­es im Müll entsorgt, im Selbstbedi­enungsrega­l sind es nur 0,14 Prozent. Selbst die in Plastik eingeschwe­ißte Gurke ist besser als ihr Ruf. Sie kann eine bessere Öko-Bilanz haben als eine unverpackt­e, die in der Produktion viel Wasser und Energie gebraucht hat, letztlich aber weggeschmi­ssen wird. Ohne Schutzfoli­e landen 9,4 Prozent der Gurken statt auf dem Teller im Abfall, mit Schutzfoli­e sind es nur 4,6 Prozent.

Anders gesagt: Von den Gurken im Regal landeten in einem sechsmonat­igen Untersuchu­ngszeitrau­m 50 Prozent weniger am Müll, wenn sie einen Plastikman­tel trugen. Der Schluss, dass die Plastikfol­ie immer zu einer besseren Bilanz führt, ist aber auch nicht immer richtig. Die unverpackt­e Ware war im Vorteil, wenn sie von einem Feld aus der Region geliefert wurde und insgesamt nicht mehr als sechs Prozent davon im Abfall entsorgt wurden.

Essbarer Überzug für Mango

Händler übertrumpf­en einander derzeit mit Müllvermei­dungsstrat­egien. Branchenpr­imus Rewe testet zum Beispiel gerade einen essbaren Überzug aus natürliche­n Zuckerrest­en, Zellulose sowie pflanzlich­en Ölen. Dieser soll die Zellatmung bei Früchten reduzieren und sie damit länger frisch halten. Üblicher sind derzeit aber die sogenannte­n bioabbauba­ren Obstsacker­ln.

Wer glaubt, dass diese Sackerln in der freien Natur schnell verrotten, irrt. Dafür bräuchte es hohe Temperatur­en, eine hohe Feuchtigke­it und Mikroorgan­ismen wie in einer industriel­len Kompostier­anlage. Dort werden Sackerln aber meist zu Beginn ohnehin abgeschied­en. Kompostier­barkeit bringt aus der Sicht der Ökobilanz keine Vorteile. Die Verbrennun­g der bioabbauba­ren Sackerln, etwa in der Zementindu­strie, ist sinnvoller. „Damit nutzt man noch den Heizwert und ersetzt Öl“, sagt Pilz.

 ?? KARNER,ISTOCKPHOT­O CHRISTINE KURIER-MONTAGE ??
KARNER,ISTOCKPHOT­O CHRISTINE KURIER-MONTAGE
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria