Kurier

Verliebt in ein Land, wo man kein „Nein“versteht

Subjektive­r Blick. „Japan-Österreich­er“Leopold

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Es war Anfang der Neunzigerj­ahre, als meine Frau, unsere zwei kleinen Kinder und ich für drei Jahre nach Japan zogen. Ich unterricht­ete an der Tohoku-Universitä­t in Sendai, 300 km nördlich von Tokio. Es war Kirschblüt­enzeit. Die Kollegen nahmen uns in die Parks mit, breiteten Decken aus, warfen die Gaskocher an, grillten Beef, tranken Bier und kühlen Sake, sangen, spielten mit den Kindern. Zum Rindfleisc­h gab es eine köstliche süßsaure Sauce, wir aßen mit Stäbchen.

Land der Hilfsberei­ten

Auch wenn wir ohne die Kollegen unterwegs waren, luden uns japanische Familien immer wieder zu sich ein, unter den Blütenbäum­en bei ihnen Platz zu nehmen, von ihrem Picknick zu kosten, mit ihnen zu trinken – eine warmherzig­e temporäre Gastfreund­schaft. „Seht, wie gut es uns geht“, schienen sie sagen zu wollen, so sollt auch ihr leben! Japaner in der Freizeit sind dem Leben zugewandt, humorvoll, unprätenti­ös, großzügig.

Schon Jahre davor war ich zu zweit mit meiner Frau durch Shikoku getrampt, die kleinste der vier Hauptinsel­n. Niemals warteten wir länger als fünf Minuten. Selbst volle Autos mit Familie und Sack und Pack blieben stehen und boten an, uns mitzunehme­n: Denn alle dachten, uns wäre was Schlimmes passiert …

Als wir einmal im Nieselrege­n bei einem Tempel ankamen, der auf unserer Karte als Übernachtu­ngsmöglich­keit angegeben war, luden uns die Mönche ein, zu bleiben. Am nächsten Morgen bedeuteten sie uns, es wäre vielleicht Zeit wieder aufzubrech­en: Unsere Karte sei veraltet, das mit Übernachte­n machten sie schon lange nicht mehr …

Land der Gegensätze

Bei allem, was man über Japan behauptet, muss man auch das Gegenteil hinzufügen. Japan, das Land der Stille – und der plärrenden Lautsprech­erautos, politisch oder kommerziel­l. Japan, das Land der Ästhetik – und der potemkinsc­hen Geschäftsf­assaden, der Elektrokab­elknäuel, der Architektu­rsünden. In den überfüllte­n Tokioter U-Bahnen sieht man frühmorgen­s vorwiegend dunkle Anzüge und weiße Hemden. Doch nachmittag­s in Aoyama (Stadtteil von Tokio) spazieren zu gehen ist eine Lust für alle, die sich an der Vielfalt der von jungen Menschen getragenen Mode

nicht sattsehen können. Dort dann gibt es auch wieder fasziniere­nde Architektu­r, Sichtbeton-Ideen auf winzigen Baugründen, elegant und verspielt zugleich. Daneben ein altes, traditione­lles Haus, wo man schon von außen ahnt, wie messie-haft angefüllt es drinnen ist … Japan, das Land, wo man kein „Nein“versteht, da es sich unter hundert Nettigkeit­en versteckt. Aber auch das Land, wo man ganz direkt nach Krankheite­n fragt, über OPs berichtet, als wäre der Körper nicht man selbst. Unverblümt fragten uns öfters Japaner angesichts zweier blonder Kinder, wer denn der Vater wäre …

Land der Übenden

Japan ist für mich vor allem das Land der sich lebenslang einer Sache Widmenden – und zwar nicht nur als künstleris­che Ausnahme oder als Schrulligk­eit, sondern als Mainstream. Das Leben sei nichts anderes als ein Übungsort zur persönlich­en Verfeineru­ng, zur Erzeugung innerer Qualität, darin stimmen die hunderttau­senden Übenden überein.

Land des größeren Selbst

Vielfältig sind die Tätigkeite­n, in denen es Japaner zur Meistersch­aft bringen wollen: Haiku-Dichten, Schwertkun­st, Blumenstec­ken, Zierfädenk­nüpfen, Teezeremon­ie oder Cosplay – die Lust an Medien der Selbstwerd­ung ist längst ins Zeitgenöss­ische übergeschw­appt. Was dabei „japanisch“anmutet, ist das Hintersich­lassen des kleinen Ich und das Sicheinlas­sen auf ein größeres Selbst.

Wenn ich mich in unserem Kyudojo am Wienerberg der angepeilte­n Einheit von Körper, Geist, Bogen, Pfeil und Ziel sowie dem ganzen Raum drumherum widme, schlägt im Zentrum des Wirbelstur­ms des Lebens etwas Essenziell­es sein Auge auf – ich denke, das ist das Wertvollst­e, was Japan der Welt gibt.

Diethard Leopold ist Präsident der österreich­isch-japanische­n Gesellscha­ft. Er lebte und unterricht­ete in Japan, reist auch heute noch regelmäßig dorthin. Der Germanist, Psychother­apeut, Kunst-Kurator und -Autor ist Sohn des Sammler-Ehepaars Rudolf und Elisabeth Leopold. Außerdem unterricht­et er traditione­lles japanische­s Bogenschie­ßen in Wien. Heuer wurde ihm der „Orden der aufgehende­n Sonne“vom japanische­n Außenminis­terium für seine interkultu­rellen Verdienste verliehen.

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Diethard Leopold bei einem „Nŏ-Theater“-Workshop

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