Kurier

„Kulturelle­r Genozid“in China

Xinjiang-Experte Adrian Zenz fordert Sanktionen gegen Peking

- VON ULRIKE BOTZENHART UND IRENE THIERJUNG

Die kulturelle Auslöschun­g der uigurische­n Minderheit in China ist auf Punkt und Beistrich durchdacht – und reicht über den Tod hinaus. So sucht man in der nordwestli­chen Provinz Xinjiang mittlerwei­le zahlreiche Moscheen und Friedhöfe vergebens. In der Zwei-MillionenS­tadt Aksu etwa findet sich auf dem Areal des einst riesigen muslimisch­en Friedhofs ein „Happiness Park“: eine Grünfläche samt Teich und grinsender Pandabär-Statue. Gräber von Generation­en uigurische­r Familien – einfach ausradiert. Satelliten­bilder belegen die Zerstörung.

Doch Peking geht noch viel weiter, um die Provinz, in der es seit Protesten der Uiguren 2009 mit offiziell 197 Toten immer wieder zu blutigen Zwischenfä­llen mit Han-Chinesen gekommen ist, in den Griff zu bekommen. Ins Ausland gespielte und jetzt vom Internatio­nalen Konsortium Investigat­iver Journalist­en veröffentl­ichte geheime Dokumente der Kommunisti­schen Partei (KP) aus den Jahren 2017 und 2018 belegen die systematis­che Verfolgung – auch wenn Peking von „Fake News“spricht. Zwischen 900.000 und 1,8 Millionen der elf Millionen Uiguren sind oder waren in bewachten und abgeschott­eten Umerziehun­gslagern eingesperr­t.

Keine Rede von „Weiterbild­ungseinric­htungen“, in denen jeder freiwillig sei, wie von Peking behauptet. Dort wird ihnen Glaube und Kultur ausgetrieb­en. Wer dagegen verstößt, muss mit „Züchtigung“rechnen.

1.200 Lager

Kameras und Spitzel gibt es überall in Xinjiang – selbst Uiguren im Exil werden überwacht; alles läuft in einer Überwachun­gsdatenban­k zusammen, um „Terroriste­n“auszuforsc­hen und zu fassen. In den Dörfern ziehen gar Aufpasser direkt zu den Familien, um in ihren Häusern zu kontrollie­ren, wie sie zur KP stehen, wer betet oder das von Han-Chinesen geliebte Schweinefl­eisch verweigert. Die Kinder werden in Internaten „gleichgesc­haltet“.

Xinjiang-Experte Adrian Zenz spricht von einem „kulturelle­n Genozid“. Der Deutsche, den der KURIER in den USA erreichte, beobachtet die Lage seit Jahren. Aus ihm zugespielt­en, vertraulic­hen Regierungs­dokumenten, Satelliten­aufnahmen und öffentlich­en Projektaus­schreibung­en schließt er, dass es in der Region bis zu 1.200 Umerziehun­gslager gibt, die in erster Linie intensiver Gehirnwäsc­he dienen. Dazu kämen 100 bis 200 Haftanstal­ten.

„Die Einrichtun­g des digitalen Polizeista­ates in Xinjiang begann 2014 nach dem Besuch von Präsident Xi Jinping“, sagt Zenz. Ende 2016 wurde massiv Polizei rekrutiert, „alle paar hundert Meter“wurden Checkpoint­s errichtet. Im Frühjahr 2017 begann die Internieru­ngswelle. Zenz sieht einen Zusammenha­ng mit dem gewaltigen Infrastruk­turprojekt der „Neuen Seidenstra­ße“, das die geostrateg­ische Bedeutung der Region massiv gesteigert habe.

„Interne Angelegenh­eit“

Das harte Vorgehen gegen die Bevölkerun­g, das Peking als „interne Angelegenh­eit“bezeichnet, liege aber auch daran, dass die KP in China ideologisc­h in die Defensive geraten sei und den Wettbewerb mit organisier­ten Religionen, allen voran Islam und Christentu­m, verloren habe. Entgegen der Grundmaxim­e, dass Religion nur „Opium“sei, das nicht mehr nötig sei, wenn ausreichen­der Wohlstand erreicht sei, hätten sich immer mehr Menschen dem Glauben zugewandt – Minderheit­en wie die Uiguren, aber auch Parteikade­r.

Die zögerliche Verurteilu­ng des „Genozids“in Xinjiang durch die internatio­nale Gemeinscha­ft, auch wenn es Kritik u. a. aus Österreich und einigen anderen EU-Staaten gab, nennt Zenz ein „Armutszeug­nis unseres real gelebten Wertesyste­ms“.

Wenn sich Bananenrep­ubliken Menschenre­chtsverlet­zungen leisteten, würde das kritisiert, sagt der Wissenscha­ftler, bei China nicht. „Bei China wird deutlich, ob wir bereit sind, den Preis zu zahlen. Wenn wir Menschenre­chtsverlet­zungen anprangern, kostet das was.“

„Gesicht wahren“

Zenz spricht sich für Sanktionen gegen China aus. „Einerseits ist die chinesisch­e Regierung stolz, sie muss anderersei­ts aber auch ihr Gesicht wahren, gerade wegen Projekten wie der Seidenstra­ße.“Sanktionen würden womöglich 3,5

Mio. Han-Chinesen

Mio. Andere sogar Veränderun­gen bewirken. Doch auch wenn dem nicht so sei, müsse man diesen Schritt setzten. „Es ist ein moralische­r Imperativ.

Nadine Godehardt von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP, Berlin) bemerkt: „Ob man mit dem Vorwurf des kulturelle­n Genozids Peking noch erreicht oder das genaue Gegenteil, ist fraglich.“Sie wünscht sich sehr wohl ein kritisches und vor allem geschlosse­nes Vorgehen der EU.

Sorgen bereitet der eben aus China zurückgeke­hrten Expertin die zunehmende Frontstell­ung zwischen China und den westlichen Demokratie­n, wie sie sich auch in Hongkong zeige. „Peking ist nicht mehr bereit, sich in das internatio­nale System zu integriere­n, sondern im Gegenteil die Welt – ihre Normen und Werte – an China anzupassen.“

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