Kurier

„Ich kann Mario Draghis Hilferuf gut nachvollzi­ehen“

Wirtschaft­sweiser. Achim Truger über Konjunktur­pakete, den Investitio­nsrückstau und die Nöte der EZB-Geldpoliti­k

- HSP

Es ist paradox: Österreich­s Wirtschaft wächst momentan deutlich rascher als die deutsche, dennoch ist die Arbeitslos­igkeit hartnäckig höher als im Nachbarlan­d. Ist das deutsche Jobwunder mit dem großen Billiglohn­sektor erkauft?

Nein, sagt der „Wirtschaft­sweise“Achim Truger, seit März 2019 einer von fünf Ökonomen im Sachverstä­ndigenrat, der die Bundesregi­erung in Berlin berät: „Wenn es so wäre, dann hätte die Einführung des Mindestloh­nes (2015, Anm.) bei der Beschäftig­ung Spuren hinterlass­en müssen.“Diese seien aber entgegen den Prognosen kaum nachweisba­r. Trugers Erklärung für die Diskrepanz: In Österreich sei, etwa durch die Zuwanderun­g, das Arbeitsang­ebot massiv gestiegen. Sprich: Es mussten für mehr Menschen Jobs gefunden werden. Ansonsten sei der Zuwachs der Beschäftig­ung da wie dort ähnlich.

Kein Konjunktur­paket

Die deutsche Industriep­roduktion schrumpft seit Quartalen. Eine Rezession der Gesamtwirt­schaft verhindern der starke private Konsum, die Dienstleis­tungen und der Bausektor.

In ihrem Jahresguta­chten 2019/’20 sehen die Wirtschaft­sweisen somit keinen akuten Handlungsb­edarf für ein Konjunktur­paket. Die Finanzpoli­tik sei ohnehin expansiv. Die Regierung solle die sozialen Absicherun­gen wirken lassen und, falls nötig, die „schwarze Null“im Budget aufgeben. Mit Kurzarbeit und einem neuen Qualifizie­rungsgeset­z gebe es Rezepte gegen steigende Arbeitslos­igkeit.

Und was ist mit dem viel beschworen­en deutschen Investitio­nsrückstau? Ja, den gebe es, sagte Truger in Wien. Er müsse aber langfristi­g aufgelöst werden. Zur kurzfristi­gen Belebung eigne sich das nicht, zumal auch die Bauindustr­ie kaum freie Kapazitäte­n hätte. Truger sieht die deutsche Schuldenbr­emse kritisch, die europäisch­en Regeln würden Deutschlan­d aber auch so finanziell­e Spielräume für „Extrahaush­alte“zugestehen.

Österreich stehe besser da, ergänzte Arbeiterka­mmer-Ökonom Markus Marterbaue­r. Wollte Deutschlan­d dieselbe Investitio­nsquote erreichen, müsste es 30 Milliarden Euro pro Jahr mehr in die Hand nehmen. Allerdings fordert er mehr Geld für das

Arbeitsmar­ktservice (AMS), speziell für ältere Personen, wo die Arbeitslos­igkeit seit 14 Monaten steige. Derzeit sei auch kein Geld für Kurzarbeit budgetiert – der Abbau von Leiharbeit­ern in der Industrie sei ein Warnsignal: „Wir gehen in diesen Abschwung mit 90.000 Arbeitslos­en mehr, als es vor der Krise 2008 waren.“

„Zu viel Verantwort­ung“

Truger verteidigt­e indes den viel gescholten­en Ex-EZBChef Mario Draghi: „Ich kann seinen Hilferuf gut nachvollzi­ehen.“Der Italiener hatte – ebenso wie Nachfolger­in

Truger trat im März 2019 die Nachfolge von Peter Bofinger an

Christine Lagarde – von den Eurostaate­n eine aktivere Fiskalpoli­tik gefordert. Das würde die raschere Rückkehr zu normaler Geldpoliti­k ermögliche­n. Truger sieht das ähnlich: Die Politik habe zu viel Verantwort­ung bei der EZB abgeladen – deren Niedrigzin­spolitik sei angemessen. Das jetzige Wiederaufl­eben der Anleihenkä­ufe halte er aber für verfrüht.

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