Sozialer Kitt im Flüsterton
Was als verpönt verschrien ist, erfüllt in Wahrheit wichtige soziale Funktionen
Die österreichische Innenpolitik kommt dieser Tage nicht zur Ruhe. Im Mittelpunkt des Trubels stehen bekanntlich private Chats und Anrufe zwischen hochrangigen politischen Akteuren. So wurde – wie man nun weiß – Indiskretes vermeintlich diskret ausgetauscht. Das informelle, nahezu flapsige Gerede um Postenbesetzungen in staatsnahen Unternehmen gleicht streckenweise einem klassischen Kaffeeklatsch. Als eine „Sozialform der diskreten Indiskretion“beschrieb der deutsche Soziologe Jörg Bergmann den Klatsch bereits vor über 30 Jahren. Was früher am Stammtisch, über den Gartenzaun, beim Greißler oder Frühshoppen stattfand, wird heute meist in digitalen Sphären ausgetauscht. „Wir klatschen und tratschen vermehrt medial vermittelt“, erklärt Sprachwissenschafterin Susanne Günthner von der Universität Münster. „Von telefonischen Klatschgesprächen
„Klatsch ist eine schillernde Spielart der Kommunikation mit widersprüchlichem Charakter.“
Susanne Günthner Sprachwissenschafterin
bis hin zu WhatsApp-Klatsch haben sich viele Formen des Austauschs entwickelt, die es früher nicht gab. Was man aber weiß, ist, dass Klatsch und Tratsch in allen Gemeinschaften existiert und eine seit Jahrhunderten verbreitete Spielart der Alltagskommunikation darstellt. Daran haben moderne Technologien nichts Grundlegendes geändert.“
Anthropologen vertreten die Ansicht, dass Gossip, wie der gesellschaftliche Flurfunk im englischsprachigen Raum genannt wird (siehe unten), unseren frühen Vorfahren das Überleben sicherte. „Das ist sinnvoll“, sagt Kommunikationspsychologin Petra Peinemann. „Wir tratschen gerne mit Gleichgesinnten, weil es uns ein Gefühl von Zusammengehörigkeit verschafft. Das ist wiederum etwas, was für uns Menschen evolutionär gesehen überlebenswichtig war. Immerhin konnte der
Ausschluss aus einer Gruppe einst den Tod bedeuten.“Damals wie heute verbringen Menschen viel Zeit damit, über andere zu sprechen. Sehr viel Zeit sogar, wie eine aktuelle Studie vor Augen führt: Psychologen der University of California fanden in einer großen Meta-Analyse heraus, dass wir im Schnitt 52 Minuten täglich klatschen. Klar ist: Tratschen ist heute keinesfalls mehr überlebenswichtig. Dennoch erfüllt es gesellschaftliche Funktionen. „Klatsch ist eine schillernde Spielart der Kommunikation mit widersprüchlichem Charakter“, sagt Günthner, „und dass sie so lange tradiert wurde, legt nahe, dass sie wichtig ist“. Etwa die soziale Kontrolle, die ausgeübt werde, indem das Verhalten anderer als inadäquat und moralisch verwerflich eingestuft wird. „Wir verständigen uns bei Klatschgesprächen über soziale Normen und Werte, die keine legalen, aber soziale Konsequenzen haben“, erklärt die Sprachforscherin. Das bestätigt Kommunikationspsychologin Peinemann: „Es verbindet uns mit Menschen und gibt uns das Gefühl der Zugehörigkeit. Wenn Tratsch darin besteht, Schlechtes über andere Menschen zu berichten, kann das ein gemeinschaftsstärkendes Gefühl der Überlegenheit hervorrufen.“Ethnologen beobachten immer wieder, wie schwierig es ist, in fremden Gemeinschaften Zugang zur Klatschkommunikation zu bekommen. „Das verdeutlicht, dass Klatsch eine wichtige Rolle in Bezug auf Zugehörigkeit und Abgrenzung zu bzw. von einer Gruppe spielt“, sagt Günthner.
Entscheidende Absicht
Tratsch kann laut Peinemann auch dazu dienen, Beziehungen zu knüpfen oder enger zu gestalten. Grübelt man über Klatsch, der emotional bewegt oder sogar ärgert, kann es aus psychologischer Sicht gesund sein, durch Tratschen gewissermaßen Dampf abzulassen. „Indem wir den Tratsch mit anderen teilen, kann sich unser Stresssystem nach unten regulieren und wir beruhigen uns“, sagt Peinemann.
Hat das Lästern nur noch das Ziel, einer anderen Person zu schaden, wird die Grenze zum Mobbing überschritten. „Gefährlich wird es aus meiner Sicht, wenn unwahrer oder ehrverletzender Tratsch Dimensionen annimmt, die derjenige, über den getratscht wird, nicht mehr beherrschen kann“, sagt Peinemann. Besonders schlimm sei dies, wenn es sich hierbei um Kinder oder Jugendliche handelt. „Wenn schwerst beleidigende Unwahrheiten als Klatsch verbreitet werden, beispielsweise über soziale Medien, kann das lang anhaltende psychische Probleme verursachen. Heranwachsende sind in dieser Hinsicht sehr sensibel und unsicher in ihrem Selbstwert.“
Ein Lichtblick: Die Psychologen der University of California durchleuchteten in ihrer Studie auch den Inhalt des Klatsches. Es zeigte sich: Nur 15 Prozent der analysierten Gespräche waren abwertender Natur. Die meisten „Lästerer“haben außerdem nicht Rufschädigung oder Verrat im Sinn. Laut niederländischen Forschungen geht es dabei hauptsächlich um Informationsaustausch und darum, seine Meinungen mit anderen abzugleichen. „Klatsch und Tratsch stellen in diesem Sinn in vielerlei Hinsicht eine Art soziales Schmiermittel dar“, erklärt Peinemann – und fügt hinzu: „Vielleicht ist Klatsch als gesellschaftlich verbindendes Element in Zeiten der Digitalisierung wichtiger denn je.“