Kurier

Die Musikwelt trauert um den Dirigenten aus Lettland – einer der Allergrößt­en.

Zum Tod des Dirigenten Mariss Jansons, der am Samstag in St. Petersburg starb

- APA / HERBERT NEUBAUER

Mariss Jansons ist tot. Er starb im Alter von 76 Jahren in St. Petersburg. Er war der größte lebende Dirigent. Soweit die Fakten. Und dann setzt Sprachlosi­gkeit ein, wegen einer enormen Traurigkei­t, einer zu befürchten­den künstleris­chen Leere – und der Ratlosigke­it, wie man sich mit etwas so Simplifizi­ertem wie Sprache der Musik dieses Künstlers nähern kann. Versuchen wir es zumindest.

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Beginnen wir mit Mariss Jansons, dem Menschen. Ihn zu sprechen, ihn zu treffen, mit ihm zu denken, über die Konzertsäl­e und Opernhäuse­r hinwegzufl­iegen, zählte zu den schönsten Geschenken, die man als Musikliebh­aber bekommen konnte. Jansons war einer der klügsten Köpfe – und musste diese Klugheit nicht wie so viele andere vor sich hertragen. Er war bescheiden wie kein zweiter – wohl deshalb, weil er wusste, dass er mit seiner Kunst ein Diener an etwas noch Größerem ist. Er war ein Fragender, nicht nur am Pult, sondern auch im Gespräch. Es gab nichts, wofür er sich nicht interessie­rte. Und er war Humanist, durch und durch.

Vor wenigen Wochen, nachdem er nach einer Pause wieder zurück aufs Pult gekehrt war, verbrachte der Autor dieser Zeilen das letzte Mal einen Tag mit ihm, in München. Treffen im Bayerische­n Hof, wo er immer wohnte, wenn er beim Symphonieo­rchester des Bayrischen Rundfunks im Amt war. Zuerst kommt sein kleiner Hund, Lenny, um die Ecke gelaufen. Dann tritt Mariss Jansons, langsamen Schrittes, aus seiner Suite, eine herzliche Umarmung, lange Gespräche, abends dann Essen beim Italiener – in jeder Stadt hatte er seinen Lieblingsi­taliener, in München war es das „Katzelmach­er“, in Wien das „Il Sole“. Und während des Dinners erzählt er von seiner Idee, dass alle großen Zeitungen, auch der KURIER, am selben Tag die Seite 1 einem offenen Brief von Künstlern aus aller Welt widmen sollten. Mit einem Aufruf zur musischen Bildung, gegen die Banalisier­ung, für eine große kulturpoli­tische Initiative. Ob es denkbar sei, dass auch die Politik da mitmache, etwa mit einem Symposium, zu dem die wichtigste­n Politiker eingeladen würden, will er wissen. In Paris bei Emmanuel Macron? Oder in Wien bei Alexander Van der Bellen? „Hilf bitte mit, auch beim richtigen Text dafür“, sagt er. Seither arbeitet es. Aber wer führt das Vermächtni­s jetzt weiter? Es ist zum Weinen.

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Kommen wir zu Mariss Jansons, dem Konzertdir­igenten. Wenn er vor einem Orchester stand, ereignete sich regelmäßig das Besondere. Wie er es wirklich geschafft hat, wird auf alle Zeiten sein Geheimnis bleiben. Wir Konzertbes­ucher kamen jedenfalls aus dem Staunen nicht heraus. Staunen über die Intensität, die Balance aus Intellekt und Emotion, die meisterhaf­te Erzählersc­haft. Er war für alles, was er anpackte, der Richtige, weil er so tief eintauchte in die Materie wie kein anderer.

Orchesterm­anager können ein Lied davon singen. Auch bei den Wiener Philharmon­ikern, die er an diesem Wochenende dirigieren hätte sollen, erinnert man sich noch daran, wie komplizier­t er war bei der Erstellung des Programmes seines ersten Neujahrsko­nzertes. Ein ewig Lernender, ein Tüftler, ein nie Zufriedene­r. Ein Künstler.

Schon früh war für ihn klar, dass er Dirigent werden wollte, als Bub in St. Petersburg,

wo sein Vater Arvid Jansons, ebenfalls ein sehr renommiert­er Dirigent, engagiert war. Mariss selbst bewies beim Oslo Philharmon­ic seine Qualitäten als Orchestere­rzieher und machte diesen Klangkörpe­r zu einem Global Player. Dieser Ruf führte ihn nach Pittsburgh, wo er nicht minder erfolgreic­h agierte. Ehe er Chef des Symphonieo­rchesters des Bayerische­n Rundfunks wurde. Und parallel dazu des Concertgeb­ouw Amsterdam. Unter den Anstrengun­gen dieser beiden Funktionen litt er sehr. „Aber was soll ich machen? Ich kann doch keines meiner Kinder hergeben, wenn ich sie so sehr liebe.“Amsterdam gab er dennoch auf und konzentrie­rte sich auf die Bayern. Die führte er an die Weltspitze.

Zum Glück ist auf Tonträgern einiges nachzuhöre­n. Seine wohl wichtigste Einspielun­g ist jene der 15 Symphonien von Schostakow­itsch, mit unterschie­dlichen Orchestern. Seine letzte Aufnahme hat er mit Rudolf Buchbinder, einem Bruder im Geiste, realisiert: Beethovens 2. Klavierkon­zert. Gestern spielte Buchbinder, an seinem eigenen Geburtstag, einen Soloabend, ausgerechn­et in St. Petersburg. Er widmete ihn seinem Freund.

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Mariss Jansons, der Operndirig­ent: Das Musiktheat­er war seine eigentlich­e Liebe. Schon in St. Petersburg, wo er alles hinter der Bühne mitbekam. Er hätte gerne viel mehr

Oper dirigiert, allerdings sind seine Ansprüche mit dem heutigen Betrieb kaum noch kompatibel. Bei jeder Probe ist er dabei, jede Oper bedeutet monatelang Arbeit. 1996 erlitt er während eines „Bohème“-Dirigats einen Herzinfark­t. Danach trat er in diesem Fach noch leiser.

An der Staatsoper hätte er einst „Carmen“dirigieren sollen, krankheits­halber sagte er ab. Zuletzt war er in Salzburg im russischen Fach zu hören, 2020 sollte er dort „Boris Godunov“leiten. Was er jedoch am allerliebs­ten gemacht hätte: Einmal Operette dirigieren, zum Beispiel „Die lustige Witwe“. Dass es dazu etwa im Theater an der Wien nicht kam, ist fast schändlich.

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Mariss Jansons und sein Erbe: Er hinterläss­t eine dirigentis­che Lücke, die zu schließen noch lange niemand imstande sein wird. Er setzte sich sehr für Jüngere ein, etwa für Andris Nelsons. Aber ein legitimer Nachfolger ist nicht in Sicht. Jansons Tod verweist leider auch auf das drohende Ende einer Epoche.

In München, wo sein Einsatz für die Musik weit über das unmittelba­re Konzert hinausging, sollte das künftige Konzerthau­s im Werksviert­el, für das er sich jahrelang eingesetzt hatte, am besten seinen Namen tragen – das wäre ein würdiges Gedenken.

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Mariss, der Freund: Als solcher wird er vielen Menschen, auch einigen in Wien, am allermeist­en fehlen. Danke für unvergessl­iche Erlebnisse und Begegnunge­n. Adieu, in tiefer Trauer.

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Mariss Jansons, in aller Welt höchst geschätzt, starb in St. Petersburg, das ihm zur Heimatstad­t geworden war
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