Lassen wir die Gegenwart doch schön sein!
Man kann nie früh genug lernen, alt zu sein. Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass Altwerden ganz von selbst glückt. Naja, natürlich stimmt das auch. Man kann ja gegen die Tatsache nichts tun, dass die Zeit und mit ihr die jungen Jahre vergehen. Meistens hat man da viel zu viel um die Ohren, um es überhaupt zu registrieren. Und eines Tages wacht man auf und ist alt.
Aber man kann rechtzeitig damit anfangen vorzubauen, dass man dann nicht in selbst ausgelegte Fallen stolpert, die die geschenkten Jahre verdüstern. Denn wie so vieles fängt – wenn schon nicht Glück oder Unglück, so doch – Gelassenheit oder Verbitterung im Kopf an. Und dieser Kopf will vorbereitet sein. Meine erste Lektion auf dem Weg in die Herausforderung Alter habe ich als Teenager gelernt – beim Anstellen für den Staatsopern-Stehplatz. Da gab es nicht nur uns Schüler und Studenten, sondern auch einige wirklich schon alte Stehplatzler. Und regelmäßig hörten wir Jungen, die wir den Auftritten unserer Lieblinge entgegenfieberten: „Jaja, die XY ist schon sehr gut, aber an die Jeritza kommt sie nicht heran!“Oder „Nach dem Slezak kann man keinen Tenor mehr hören…“Was mich heute noch verwundert: Ich habe mir damals nicht gedacht – diese blöden Alten. Vielmehr habe ich damals beschlossen, dass mir das nie passieren darf, dass ich vor lauter Verherrlichen von
Vergangenem, Verklungenem, Verlorenem die Gegenwart nicht mehr schätzen, ja vielleicht gar nicht mehr aufnehmen kann. Und auch wenn ich sonst nicht gerade sehr konsequent bin: Daran habe ich mich immer gehalten – und jetzt, wo das Vergangene allumfassend ist, hilft das sehr. Vieles bei diesem unfreiwilligen Selbstversuch namens Alter hängt offensichtlich von einer Art gedanklichen Selbstdisziplin ab.
Leuchtende Kinderaugen
Süßer haben die Advent-Glocken nie geklungen als früher? Als man selbst ein Kind war (und ihn eigentlich als endlose Wartezeit empfand)? Als die Augen der eigenen Kinder noch erwartungsvoll leuchteten? Ja, das war wunderschön – eine Erinnerung,
die immer noch das Herz wärmt (auch wenn ich nicht vergessen habe, wie viel Stress die mütterliche Vorweihnachtszeit ausgemacht hat). Aber jetzt ist der Advent auch schön – anders schön. So schön, wie wir ihn uns selbst erlauben.
Seien wir doch ehrlich: Wir können, alt geworden, auch ganz anders, wahrscheinlich: viel besser, genießen – denn der langjährige Vergleich macht uns sicher. Außerdem sind wir jetzt für viel weniger verantwortlich als früher, was die Festtagsvorbereitungen betrifft. Wir haben jetzt (wenn wir wollen) genug Zeit, um durch die am schönsten beleuchteten Grätzel zu schlendern – der Vorweihnachtszauber ist da allgegenwärtig, warum würden sonst so viele Menschen aus aller Welt ihn bei uns suchen und finden? Jetzt können wir den Trubel und die Mühen anderen überlassen, uns Kinderaugen zulegen und uns von der Vorweihnachtszeit verzaubern lassen (und genauso wie Kinder das ignorieren, was uns vielleicht stört).
Erinnerungen sind wunderbar. Aber sie dürfen nicht zum Gefängnis werden – die unserer Generation geschenkten alten Jahre bergen so viel Schönes, Neues. Was die Vergangenheit kann (nämlich: schön sein), kann die Gegenwart schon lange.
Also her mit den Kinderaugen!
Ruth Pauli ist alt (69) und lebt und schreibt gerne. Früher war sie lange Jahre innenpolitische Kolumnistin beim KURIER.