Kurier

Lassen wir die Gegenwart doch schön sein!

- VON RUTH PAULI

Man kann nie früh genug lernen, alt zu sein. Es ist ein weitverbre­itetes Missverstä­ndnis, dass Altwerden ganz von selbst glückt. Naja, natürlich stimmt das auch. Man kann ja gegen die Tatsache nichts tun, dass die Zeit und mit ihr die jungen Jahre vergehen. Meistens hat man da viel zu viel um die Ohren, um es überhaupt zu registrier­en. Und eines Tages wacht man auf und ist alt.

Aber man kann rechtzeiti­g damit anfangen vorzubauen, dass man dann nicht in selbst ausgelegte Fallen stolpert, die die geschenkte­n Jahre verdüstern. Denn wie so vieles fängt – wenn schon nicht Glück oder Unglück, so doch – Gelassenhe­it oder Verbitteru­ng im Kopf an. Und dieser Kopf will vorbereite­t sein. Meine erste Lektion auf dem Weg in die Herausford­erung Alter habe ich als Teenager gelernt – beim Anstellen für den Staatsoper­n-Stehplatz. Da gab es nicht nur uns Schüler und Studenten, sondern auch einige wirklich schon alte Stehplatzl­er. Und regelmäßig hörten wir Jungen, die wir den Auftritten unserer Lieblinge entgegenfi­eberten: „Jaja, die XY ist schon sehr gut, aber an die Jeritza kommt sie nicht heran!“Oder „Nach dem Slezak kann man keinen Tenor mehr hören…“Was mich heute noch verwundert: Ich habe mir damals nicht gedacht – diese blöden Alten. Vielmehr habe ich damals beschlosse­n, dass mir das nie passieren darf, dass ich vor lauter Verherrlic­hen von

Vergangene­m, Verklungen­em, Verlorenem die Gegenwart nicht mehr schätzen, ja vielleicht gar nicht mehr aufnehmen kann. Und auch wenn ich sonst nicht gerade sehr konsequent bin: Daran habe ich mich immer gehalten – und jetzt, wo das Vergangene allumfasse­nd ist, hilft das sehr. Vieles bei diesem unfreiwill­igen Selbstvers­uch namens Alter hängt offensicht­lich von einer Art gedanklich­en Selbstdisz­iplin ab.

Leuchtende Kinderauge­n

Süßer haben die Advent-Glocken nie geklungen als früher? Als man selbst ein Kind war (und ihn eigentlich als endlose Wartezeit empfand)? Als die Augen der eigenen Kinder noch erwartungs­voll leuchteten? Ja, das war wunderschö­n – eine Erinnerung,

die immer noch das Herz wärmt (auch wenn ich nicht vergessen habe, wie viel Stress die mütterlich­e Vorweihnac­htszeit ausgemacht hat). Aber jetzt ist der Advent auch schön – anders schön. So schön, wie wir ihn uns selbst erlauben.

Seien wir doch ehrlich: Wir können, alt geworden, auch ganz anders, wahrschein­lich: viel besser, genießen – denn der langjährig­e Vergleich macht uns sicher. Außerdem sind wir jetzt für viel weniger verantwort­lich als früher, was die Festtagsvo­rbereitung­en betrifft. Wir haben jetzt (wenn wir wollen) genug Zeit, um durch die am schönsten beleuchtet­en Grätzel zu schlendern – der Vorweihnac­htszauber ist da allgegenwä­rtig, warum würden sonst so viele Menschen aus aller Welt ihn bei uns suchen und finden? Jetzt können wir den Trubel und die Mühen anderen überlassen, uns Kinderauge­n zulegen und uns von der Vorweihnac­htszeit verzaubern lassen (und genauso wie Kinder das ignorieren, was uns vielleicht stört).

Erinnerung­en sind wunderbar. Aber sie dürfen nicht zum Gefängnis werden – die unserer Generation geschenkte­n alten Jahre bergen so viel Schönes, Neues. Was die Vergangenh­eit kann (nämlich: schön sein), kann die Gegenwart schon lange.

Also her mit den Kinderauge­n!

Ruth Pauli ist alt (69) und lebt und schreibt gerne. Früher war sie lange Jahre innenpolit­ische Kolumnisti­n beim KURIER.

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