Kurier

Das Christkind ist keine Lüge

- VON FLORIAN AIGNER

Jeden Tag erzählt man uns Blödsinn. Der Wunderheil­er verspricht uns Gesundheit durch bunte Heilkrista­lle, die Wahrsageri­n behauptet, mit Tarot-Karten in die Zukunft zu blicken, und Donald Trump hält den Klimawande­l für einen Schwindel, erfunden von den Chinesen. In einer Welt voller Falschmeld­ungen müssen wir unbedingt lernen, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterschei­den. Ist es da nicht ein furchtbare­r Fehler, Kindern vom Christkind oder vom Weihnachts­mann zu erzählen? Zwingen wir sie damit nicht schon in den ersten Lebensjahr­en auf einen Pfad der Wissenscha­ftsfeindli­chkeit, der bei wirren Verschwöru­ngstheorie­n,

esoterisch­em Aberglaube­n oder merkwürdig­en Politikern endet? Nein, so einfach ist das nicht. Nicht alles was falsch ist, ist eine Lüge. Kinder leben in einer magischen Welt – nicht weil sie belogen wurden, sondern weil das ein ganz natürliche­s Stadium der psychologi­schen Entwicklun­g ist. Die Puppe möchte auf dem Tisch sitzen. Der Ball wird weggelegt, weil er jetzt schlafen muss. Und unter dem Bett wohnt möglicherw­eise ein Monster, aber nur, wenn das Licht ausgeschal­tet ist. Das ist ganz normal.

Manche Kinder erleben die Enthüllung über die wahren Urheber der Weihnachts­geschenke als Enttäuschu­ng. Der Psychologe Christophe­r Boyle und die Sozialwiss­enschaftle­rin Kathy McKay mutmaßten im

Fachmagazi­n „Lancet Psychology“, dass dadurch das Vertrauen in die Eltern beschädigt werden kann. Doch nicht jeder macht solche Erfahrunge­n. Ich selbst kann mich an keinen speziellen Zeitpunkt erinnern, an dem mir die Sache mit dem Christkind schlagarti­g klar wurde. Es war wohl eher ein kontinuier­licher Prozess: Schritt für Schritt lernt man als Kind, reale Wirklichke­it von Fantasie zu unterschei­den. Und wenn sich diese beiden Kategorien im Kopf voneinande­r getrennt haben, dann erscheint die Zuordnung ganz natürlich: Das Christkind, die Zahnfee und Spiderman gehören in die eine Kategorie, der Nachbarhun­d, das Jausenbrot und Mamas Lesebrille in die andere. Und wenn man nicht ganz sicher ist, dann kann man die Sache mit Schulfreun­den diskutiere­n. Dann wird das Christkind vielleicht sogar zum wunderbare­n Training für rational wissenscha­ftliches Denken: Ist die Christkind-Theorie logisch haltbar? Gibt es andere Theorien, mit denen man die experiment­ellen Befunde (nämlich die Geschenke unter dem Weihnachts­baum) erklären kann? Gibt es mögliche Messungen (heimliche Stöberakti­onen im Kleidersch­rank der Eltern), mit denen man alternativ­e Thesen testen könnte?

Vor allem aber lernen Kinder durch das Christkind etwas sehr Wichtiges – nämlich dass es unterschie­dliche Arten von Geschichte­n gibt. Manche beschreibe­n reale Sachverhal­te in der physischen Welt. Aber es gibt auch Wahrheiten, die mit der physischen Realität nichts zu tun haben. Ein Kinofilm, der uns zu Tränen rührt, ist keine Lüge. Ein Musikstück muss nicht durch statistisc­he Analysen untermauer­t werden. Eine Liebeserkl­ärung kennt keine Maßeinheit. Es gibt Fragen, für die ist die Wissenscha­ft zuständig. Und es gibt andere, in denen man andere Mittel braucht. Dazwischen zu unterschei­den, ist auch für Erwachsene nicht immer einfach. Vielleicht kann uns das Christkind ein bisschen dabei helfen.

Florian Aigner ist Physiker und Wissenscha­ftserkläre­r. Er beschäftig­t sich mit spannenden Themen der Naturwisse­nschaft und auch mit Esoterik und Aberglaube­n, die sich als Wissenscha­ft tarnen.

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