„Es braucht die christlichen Werte dringender denn je“
Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler im KURIER-Interview
Weihnachten. Vor einer Engführung der Debatte über Werte und Identität warnt der Bischof der Diözese Innsbruck im Weihnachtsinterview mit dem KURIER. Es brauche „die christlichen Werte dringender denn je, aber sie sind auch bisher immer im Dialog entstanden“, so der Tiroler Hirte. Und: „Identität entsteht durch Zuwendung, nicht durch Abgrenzung.“Zur Frage der Zulassungsbedingungen zum Priesteramt (Zölibat, Frauenweihe) zeigt sich Glettler vorsichtig offen. Die Diskussion darüber sei nicht beendet.
Bischof Hermann Glettler warnt vor einer Engführung von Wertedebatten. Bei den Themen Zölibat und Frauen in der Kirche zeigt er sich offen.
KURIER: Herr Bischof, wie würden Sie jemandem, der nicht christlich sozialisiert bzw. in unserer Kultur verwurzelt ist, erklären, was wir zu Weihnachten feiern? Hermann Glettler: Wir feiern den Geburtstag jener Persönlichkeit, die am nachhaltigsten unsere Welt verändert hat. Jesus steht für eine Revolution der Liebe, die von Gott kommt. Gnade vor Recht, Zärtlichkeit anstelle von Gewalt. Weihnachten ist ein Fest des Heimkommens, ein Fest der Zugehörigkeit. Bei allem, was uns umtreibt, oftmals entfremdet und seelisch obdachlos macht – Weihnachten ist ein Nachhause-Kommen, ein Willkommen-Sein. Der geheimnisvolle Urgrund des Seins, den wir „Gott“nennen, ist nicht anonym geblieben. Im Kind von Betlehem hat er sich mit einem menschlichen Gesicht gezeigt, sich eingewoben in die DNA biologischer Existenz: Das ist gewagte, fast trotzige Behauptung des Glaubens – aber gerade deshalb ein tiefer Trost, Ansage von Nähe, Grund zum Feiern.
Weihnachten ist für viele auch verbunden mit einer Verlustanzeige: Es wird die
Verkitschung und Kommerzialisierung beklagt, der Verlust an Substanz. Es wird aber auch Vergangenes verklärt, man wünscht sich „Weihnachten wie früher“…
Ja, Weihnachten ist ein Ankerpunkt für so manche verschüttete Sehnsucht, für ein Heimweh in uns. Es gehen ja unzählige Leute zur Christmette, die sonst kaum einen Bezug zur Kirche haben. Und so manches Idyll hat auch seine Berechtigung, aber es darf sich der Festgedanke nicht darin erschöpfen. Es geht um eine Begegnung, die immer anspruchsvoll ist, Geschenk und Herausforderung. Bei einer Geburtstagsfeier bleibt man ja auch nicht bei den Babyfotos hängen. Man möchte der zu feiernden Person begegnen, für sie offen sein. Die innere Verbundenheit mit Jesus zu erneuern, ist der mystische Gehalt von Weihnachten. Sich innerlich von ihm bewohnen lassen.
Europa könne nur dann gerettet werden, wenn es „zur Quelle seiner wahren Werte zurückkehrt: seiner christlichen Identität“, hat Ungarns Premier Viktor Orbán kürzlich gesagt. Wie stehen Sie dazu?
Diesen abstrakten, oft politisierten Wertediskurs finde ich problematisch. Natürlich ist der christliche Glaube ein ganz prägender und befruchtender Faktor europäischer Identität. Universitäten und Krankenhäuser, Sozialfürsorge und vieles mehr ist aus dem Humus eines christlichen Menschenund
Gottesbildes heraus gewachsen. Aber eine propagierte Rückkehr zur christlichen Identität setzt mir zu eng an. Wann hat es denn diese gegeben? Und was ist mit den Anders- oder Nichtgläubigen? Identität formt sich außerdem im konkreten Engagement, in der Offenheit für das Heute. Identität entsteht durch Zuwendung, nicht durch Abgrenzung. Ja, es braucht die christlichen Werte dringender denn je, aber sie sind auch bisher immer im Dialog entstanden, im kulturellen Gemenge sozusagen.
Viele sehen dennoch die kulturchristliche Prägung Europas bedroht durch die Migration von Menschen aus muslimisch dominierten Ländern.
Sorge bereitet mir, dass vielen Christen der eigene Glaube weggerutscht ist. Leere Kirchen irritieren mich mehr als volle muslimische Gebetsräume. Ich habe kein Problem, wenn Muslime ihren Glauben bewusst leben – da können wir einiges lernen. Von Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften im Übrigen auch. Ich habe mich persönlich auch stets um guten Kontakt zu Muslimen bzw. muslimischen Vereinen bemüht. Dabei habe ich auch beobachtet, dass es Strömungen im Islam gibt, die sehr bedenklich bis gefährlich sind. Deswegen braucht es einen differenzierten Dialog der Religionen, ein genaues Hinschauen und wenn nötig auch couragiertes Benennen von Entwicklungen, die wir in Europa sicher nicht wollen.
„Identität entsteht durch Zuwendung und Offenheit für das Heute, nicht durch Abgrenzung.“
Im Vorfeld der Bischofssynode zu Amazonien im Oktober haben Sie sich vorsichtig zustimmend zu „Viri probati“geäußert, dann aber vor überzogenen Erwartungen gewarnt …
Ich kann mir die Weihe von Personen, die sich im familiären Leben, im Beruf und in der Pfarre bewährt haben, gut vorstellen – auch hier bei uns. Das muss jedoch vorbereitet werden. Mir war die Rezeption der Empfehlungen, die von der Synode verabschiedet wurden, zu hektisch. Das braucht noch einige Zwischenschritte. Daher plädiere ich dafür, die westlichen Reformwünsche nochmals mit dem Blick auf die gefährdeten Regionen Amazoniens zu betrachten. Es wird hierzulande oft mit dem „eucharistischen Hunger“argumentiert: Den sehe ich nicht. Viele, meist auch schön gestaltete Gottesdienste werden in halb leeren Kirchen gefeiert. Meiner Meinung nach muss die erste drängende Fragestellung lauten: Wie können wir einen lebensrelevanten Glauben aufwecken? Wir gehen bei der Spendung der Sakramente immer noch von volkskirchlichen Parametern aus. Evangelisation, d. h. die persönliche Berührung mit dem Evangelium Jesu, sollte kein Fremdwort bleiben. Nur eine spirituelle und in der sozialen Praxis authentische Kirche wird Menschen zukünftig faszinieren.
Sind Sie der Meinung, dass auf mittlere Sicht der zölibatär lebende Priester der „Normalfall“sein wird?
Ja, das glaube ich, weil die zölibatäre Lebensform den Priester zu einer Gestalt macht, die auf jemanden anderen und etwas anderes verweist. Es ist dies eine Facette eines „armen“Lebens nach dem Vorbild Jesu – in Zusammenhang mit einer entsprechenden Lebensführung. Wobei zölibatär leben nicht heißen soll, alleine zu leben; es geht um mehr Aufmerksamkeit, um eine größere Verfügbarkeit für andere Menschen. Leider mangelt es auch innerkirchlich daran, dass der zölibatär lebende Mensch, ob Ordenschrist oder Priester, nicht mehr wirklich gewollt ist. Junge Menschen, die sich für einen „geistlichen Beruf“interessieren, stehen heute meist unter einem großen Legitimationsdruck. Wenn wir
also zukünftig Ordensberufungen und Priester, aber auch verheiratete Männer und Frauen in pastoralen Berufen und im Religionsunterricht wollen, dann müssen wir die dafür notwendige Atmosphäre schaffen.
Das zweite, noch viel schwierigere Thema ist die Frauenfrage. Hier wird kirchlicherseits mit Verweis auf „Ordinatio sacerdotalis“von Johannes Paul II. (1994) erklärt, dass diese Frage definitiv und endgültig entschieden sei. Ist das so?
Ich bin in dieser Frage ziemlich unsicher. Die Ungleichheit in der Behandlung der Geschlechter, wenn es um die Zulassung zu den Weiheämtern geht, wird immer stärker als Ungerechtigkeit benannt – und das kann ich verstehen. Wenngleich von einer immer wieder behaupteten generellen Diskriminierung der Frau in der Kirche keine Rede sein kann. Es ist auch noch längst nicht alles ausgeschöpft, was es unter den aktuellen Bedingungen an Möglichkeiten gibt, Frauen verstärkt in verantwortliche Positionen zu bringen bzw. in Entscheidungsprozesse einzubinden. In den letzten 50
Jahren ist da vieles gewachsen, und der Weg ist noch lange nicht abgeschlossen. Aber ich sehe die Enttäuschungen und Kränkungen, die es mit Blick auf die Frage der Weihe gibt. Die Kirche steht mit der Argumentation, dass aufgrund der päpstlichen Aussagen keine Diskussion mehr stattfinden soll, sehr fragwürdig da. Positiv ist aber, dass die Synode ja keine Tür in dieser Frage verschlossen hat.
Sehen Sie einen Ausweg?
Wahrscheinlich gelingt das nur mit einer repräsentativen Kirchenversammlung zu diesem Thema. Unabhängig davon sollte man grundsätzlich die beiden Seiten kirchlicher Leitungsverantwortung stärker betonen. Im heutigen Lebensvollzug der Kirche dominiert die institutionelle, d. h. die sakramentale Seite der Leitungsvollmacht – durch Weihe übertragen. Die zweite Seite ist unterentwickelt – das ist diejenige, die auf Charismen und erprobten Begabungen aufbaut. Ja, ich bin der Überzeugung, dass Gott der Kirche – und im Übrigen auch jeder anderen Gemeinschaft – die nötigen Talente schenkt, die sie zum Bestehen angesichts
der aktuellen Herausforderungen braucht. Im Neuen Testament finden sich die Kataloge mit dieser oder ähnlichen Aufzählungen: Gabe des Lehrens, des Vorstehens, der Leitung usf. Basierend auf diesen Gaben ließe sich parallel zum Leitungsamt kraft der sakramentalen Weihe auch eine gleichbedeutende Leitungsverantwortung von „professionellen Laien“, also von Männern und Frauen, in der Kirche postulieren. Die hierarchische und demokratische Seite der Kirche würden mit diesem Ansatz, den ich hier nur andeuten konnte, in
eine bessere Balance kommen. Das könnte auch die Diskussion über die Weiheämter etwas relativieren.
Was sehen Sie für theologische Gründe für die geltende Regelung?
Die theologischen Gründe sind kaum zu benennen. Grundsätzlich teilen wir die Position, dass nur Männer für den Ordo zugelassen sind, mit allen orthodoxen und altorientalischen Kirchen. Für diese Kirchen steht die Frage einer Priesterweihe von Frauen überhaupt nicht an. Auch in den meisten Kulturkreisen, ausgenommen Europa und USA, ist dies ähnlich. Sehr wohl stellt sich diese Frage im europäischen Kontext. Wahrscheinlich ist es ein notwendiger Schritt der Inkulturation, der jedoch noch Zeit benötigen wird. Die Wiener Theologin Marianne Schlosser hat zur Begründung der aktuellen kirchlichen Praxis auf das Bild von Christus als Bräutigam verwiesen, welcher der Braut der Gemeinschaft gegenübersteht. Ob diese Argumentation auf der theologischen Symbolebene, die auf die Kirchenväter zurückgreift, tatsächlich gültig und verständlich ist, wird diskutiert.
„Ich kann mir die Weihe von Personen, die sich im Leben bewährt haben, gut vorstellen.“