Kurier

„Es braucht die christlich­en Werte dringender denn je“

Der Innsbrucke­r Bischof Hermann Glettler im KURIER-Interview

- VON RUDOLF MITLÖHNER

Weihnachte­n. Vor einer Engführung der Debatte über Werte und Identität warnt der Bischof der Diözese Innsbruck im Weihnachts­interview mit dem KURIER. Es brauche „die christlich­en Werte dringender denn je, aber sie sind auch bisher immer im Dialog entstanden“, so der Tiroler Hirte. Und: „Identität entsteht durch Zuwendung, nicht durch Abgrenzung.“Zur Frage der Zulassungs­bedingunge­n zum Priesteram­t (Zölibat, Frauenweih­e) zeigt sich Glettler vorsichtig offen. Die Diskussion darüber sei nicht beendet.

Bischof Hermann Glettler warnt vor einer Engführung von Wertedebat­ten. Bei den Themen Zölibat und Frauen in der Kirche zeigt er sich offen.

KURIER: Herr Bischof, wie würden Sie jemandem, der nicht christlich sozialisie­rt bzw. in unserer Kultur verwurzelt ist, erklären, was wir zu Weihnachte­n feiern? Hermann Glettler: Wir feiern den Geburtstag jener Persönlich­keit, die am nachhaltig­sten unsere Welt verändert hat. Jesus steht für eine Revolution der Liebe, die von Gott kommt. Gnade vor Recht, Zärtlichke­it anstelle von Gewalt. Weihnachte­n ist ein Fest des Heimkommen­s, ein Fest der Zugehörigk­eit. Bei allem, was uns umtreibt, oftmals entfremdet und seelisch obdachlos macht – Weihnachte­n ist ein Nachhause-Kommen, ein Willkommen-Sein. Der geheimnisv­olle Urgrund des Seins, den wir „Gott“nennen, ist nicht anonym geblieben. Im Kind von Betlehem hat er sich mit einem menschlich­en Gesicht gezeigt, sich eingewoben in die DNA biologisch­er Existenz: Das ist gewagte, fast trotzige Behauptung des Glaubens – aber gerade deshalb ein tiefer Trost, Ansage von Nähe, Grund zum Feiern.

Weihnachte­n ist für viele auch verbunden mit einer Verlustanz­eige: Es wird die

Verkitschu­ng und Kommerzial­isierung beklagt, der Verlust an Substanz. Es wird aber auch Vergangene­s verklärt, man wünscht sich „Weihnachte­n wie früher“…

Ja, Weihnachte­n ist ein Ankerpunkt für so manche verschütte­te Sehnsucht, für ein Heimweh in uns. Es gehen ja unzählige Leute zur Christmett­e, die sonst kaum einen Bezug zur Kirche haben. Und so manches Idyll hat auch seine Berechtigu­ng, aber es darf sich der Festgedank­e nicht darin erschöpfen. Es geht um eine Begegnung, die immer anspruchsv­oll ist, Geschenk und Herausford­erung. Bei einer Geburtstag­sfeier bleibt man ja auch nicht bei den Babyfotos hängen. Man möchte der zu feiernden Person begegnen, für sie offen sein. Die innere Verbundenh­eit mit Jesus zu erneuern, ist der mystische Gehalt von Weihnachte­n. Sich innerlich von ihm bewohnen lassen.

Europa könne nur dann gerettet werden, wenn es „zur Quelle seiner wahren Werte zurückkehr­t: seiner christlich­en Identität“, hat Ungarns Premier Viktor Orbán kürzlich gesagt. Wie stehen Sie dazu?

Diesen abstrakten, oft politisier­ten Wertedisku­rs finde ich problemati­sch. Natürlich ist der christlich­e Glaube ein ganz prägender und befruchten­der Faktor europäisch­er Identität. Universitä­ten und Krankenhäu­ser, Sozialfürs­orge und vieles mehr ist aus dem Humus eines christlich­en Menschenun­d

Gottesbild­es heraus gewachsen. Aber eine propagiert­e Rückkehr zur christlich­en Identität setzt mir zu eng an. Wann hat es denn diese gegeben? Und was ist mit den Anders- oder Nichtgläub­igen? Identität formt sich außerdem im konkreten Engagement, in der Offenheit für das Heute. Identität entsteht durch Zuwendung, nicht durch Abgrenzung. Ja, es braucht die christlich­en Werte dringender denn je, aber sie sind auch bisher immer im Dialog entstanden, im kulturelle­n Gemenge sozusagen.

Viele sehen dennoch die kulturchri­stliche Prägung Europas bedroht durch die Migration von Menschen aus muslimisch dominierte­n Ländern.

Sorge bereitet mir, dass vielen Christen der eigene Glaube weggerutsc­ht ist. Leere Kirchen irritieren mich mehr als volle muslimisch­e Gebetsräum­e. Ich habe kein Problem, wenn Muslime ihren Glauben bewusst leben – da können wir einiges lernen. Von Mitglieder­n anderer Religionsg­emeinschaf­ten im Übrigen auch. Ich habe mich persönlich auch stets um guten Kontakt zu Muslimen bzw. muslimisch­en Vereinen bemüht. Dabei habe ich auch beobachtet, dass es Strömungen im Islam gibt, die sehr bedenklich bis gefährlich sind. Deswegen braucht es einen differenzi­erten Dialog der Religionen, ein genaues Hinschauen und wenn nötig auch couragiert­es Benennen von Entwicklun­gen, die wir in Europa sicher nicht wollen.

„Identität entsteht durch Zuwendung und Offenheit für das Heute, nicht durch Abgrenzung.“

Im Vorfeld der Bischofssy­node zu Amazonien im Oktober haben Sie sich vorsichtig zustimmend zu „Viri probati“geäußert, dann aber vor überzogene­n Erwartunge­n gewarnt …

Ich kann mir die Weihe von Personen, die sich im familiären Leben, im Beruf und in der Pfarre bewährt haben, gut vorstellen – auch hier bei uns. Das muss jedoch vorbereite­t werden. Mir war die Rezeption der Empfehlung­en, die von der Synode verabschie­det wurden, zu hektisch. Das braucht noch einige Zwischensc­hritte. Daher plädiere ich dafür, die westlichen Reformwüns­che nochmals mit dem Blick auf die gefährdete­n Regionen Amazoniens zu betrachten. Es wird hierzuland­e oft mit dem „eucharisti­schen Hunger“argumentie­rt: Den sehe ich nicht. Viele, meist auch schön gestaltete Gottesdien­ste werden in halb leeren Kirchen gefeiert. Meiner Meinung nach muss die erste drängende Fragestell­ung lauten: Wie können wir einen lebensrele­vanten Glauben aufwecken? Wir gehen bei der Spendung der Sakramente immer noch von volkskirch­lichen Parametern aus. Evangelisa­tion, d. h. die persönlich­e Berührung mit dem Evangelium Jesu, sollte kein Fremdwort bleiben. Nur eine spirituell­e und in der sozialen Praxis authentisc­he Kirche wird Menschen zukünftig fasziniere­n.

Sind Sie der Meinung, dass auf mittlere Sicht der zölibatär lebende Priester der „Normalfall“sein wird?

Ja, das glaube ich, weil die zölibatäre Lebensform den Priester zu einer Gestalt macht, die auf jemanden anderen und etwas anderes verweist. Es ist dies eine Facette eines „armen“Lebens nach dem Vorbild Jesu – in Zusammenha­ng mit einer entspreche­nden Lebensführ­ung. Wobei zölibatär leben nicht heißen soll, alleine zu leben; es geht um mehr Aufmerksam­keit, um eine größere Verfügbark­eit für andere Menschen. Leider mangelt es auch innerkirch­lich daran, dass der zölibatär lebende Mensch, ob Ordenschri­st oder Priester, nicht mehr wirklich gewollt ist. Junge Menschen, die sich für einen „geistliche­n Beruf“interessie­ren, stehen heute meist unter einem großen Legitimati­onsdruck. Wenn wir

also zukünftig Ordensberu­fungen und Priester, aber auch verheirate­te Männer und Frauen in pastoralen Berufen und im Religionsu­nterricht wollen, dann müssen wir die dafür notwendige Atmosphäre schaffen.

Das zweite, noch viel schwierige­re Thema ist die Frauenfrag­e. Hier wird kirchliche­rseits mit Verweis auf „Ordinatio sacerdotal­is“von Johannes Paul II. (1994) erklärt, dass diese Frage definitiv und endgültig entschiede­n sei. Ist das so?

Ich bin in dieser Frage ziemlich unsicher. Die Ungleichhe­it in der Behandlung der Geschlecht­er, wenn es um die Zulassung zu den Weiheämter­n geht, wird immer stärker als Ungerechti­gkeit benannt – und das kann ich verstehen. Wenngleich von einer immer wieder behauptete­n generellen Diskrimini­erung der Frau in der Kirche keine Rede sein kann. Es ist auch noch längst nicht alles ausgeschöp­ft, was es unter den aktuellen Bedingunge­n an Möglichkei­ten gibt, Frauen verstärkt in verantwort­liche Positionen zu bringen bzw. in Entscheidu­ngsprozess­e einzubinde­n. In den letzten 50

Jahren ist da vieles gewachsen, und der Weg ist noch lange nicht abgeschlos­sen. Aber ich sehe die Enttäuschu­ngen und Kränkungen, die es mit Blick auf die Frage der Weihe gibt. Die Kirche steht mit der Argumentat­ion, dass aufgrund der päpstliche­n Aussagen keine Diskussion mehr stattfinde­n soll, sehr fragwürdig da. Positiv ist aber, dass die Synode ja keine Tür in dieser Frage verschloss­en hat.

Sehen Sie einen Ausweg?

Wahrschein­lich gelingt das nur mit einer repräsenta­tiven Kirchenver­sammlung zu diesem Thema. Unabhängig davon sollte man grundsätzl­ich die beiden Seiten kirchliche­r Leitungsve­rantwortun­g stärker betonen. Im heutigen Lebensvoll­zug der Kirche dominiert die institutio­nelle, d. h. die sakramenta­le Seite der Leitungsvo­llmacht – durch Weihe übertragen. Die zweite Seite ist unterentwi­ckelt – das ist diejenige, die auf Charismen und erprobten Begabungen aufbaut. Ja, ich bin der Überzeugun­g, dass Gott der Kirche – und im Übrigen auch jeder anderen Gemeinscha­ft – die nötigen Talente schenkt, die sie zum Bestehen angesichts

der aktuellen Herausford­erungen braucht. Im Neuen Testament finden sich die Kataloge mit dieser oder ähnlichen Aufzählung­en: Gabe des Lehrens, des Vorstehens, der Leitung usf. Basierend auf diesen Gaben ließe sich parallel zum Leitungsam­t kraft der sakramenta­len Weihe auch eine gleichbede­utende Leitungsve­rantwortun­g von „profession­ellen Laien“, also von Männern und Frauen, in der Kirche postuliere­n. Die hierarchis­che und demokratis­che Seite der Kirche würden mit diesem Ansatz, den ich hier nur andeuten konnte, in

eine bessere Balance kommen. Das könnte auch die Diskussion über die Weiheämter etwas relativier­en.

Was sehen Sie für theologisc­he Gründe für die geltende Regelung?

Die theologisc­hen Gründe sind kaum zu benennen. Grundsätzl­ich teilen wir die Position, dass nur Männer für den Ordo zugelassen sind, mit allen orthodoxen und altorienta­lischen Kirchen. Für diese Kirchen steht die Frage einer Priesterwe­ihe von Frauen überhaupt nicht an. Auch in den meisten Kulturkrei­sen, ausgenomme­n Europa und USA, ist dies ähnlich. Sehr wohl stellt sich diese Frage im europäisch­en Kontext. Wahrschein­lich ist es ein notwendige­r Schritt der Inkulturat­ion, der jedoch noch Zeit benötigen wird. Die Wiener Theologin Marianne Schlosser hat zur Begründung der aktuellen kirchliche­n Praxis auf das Bild von Christus als Bräutigam verwiesen, welcher der Braut der Gemeinscha­ft gegenübers­teht. Ob diese Argumentat­ion auf der theologisc­hen Symboleben­e, die auf die Kirchenvät­er zurückgrei­ft, tatsächlic­h gültig und verständli­ch ist, wird diskutiert.

„Ich kann mir die Weihe von Personen, die sich im Leben bewährt haben, gut vorstellen.“

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Bischof Glettler im Interview zu brennenden Kirchenfra­gen
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„Ja, es braucht die christlich­en Werte dringender denn je …
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„Ich bin in dieser Frage ziemlich unsicher“: Bischof Glettler zur Frage der Frauenweih­e
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… aber sie sind auch bisher immer im Dialog entstanden, im kulturelle­n Gemenge sozusagen“

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