Kurier

Wo Kinder in Krisen unterkomme­n

4.000 Kinder in Wien leben nicht bei ihren Eltern. Die Weihnachts­zeit ist besonders kritisch

- VON JULIA SCHRENK

Susanne Jahn hat vier Kinder. Eigentlich. Meistens sind es sechs und manchmal auch sieben. So wie jetzt gerade. Frau Jahn ist nicht nur Mutter ihrer vier leiblichen Kinder, sie ist auch Dauer- und Krisenpfle­gemutter. Derzeit leben ein zehn Monate alter Bub bei ihr und ein drei Wochen altes Mädchen. Das Mädchen hat sie direkt aus dem Spital geholt.

3.800 Kinder leben in Wien derzeit nicht bei ihren Eltern. 1.800 davon sind in Pflege bei Verwandten, die andere Hälfte wurde in Wohngruppe­n oder bei Dauerpfleg­eeltern untergebra­cht.

Dass Kinder nicht mehr bei ihren Eltern leben dürfen, hat triftige Gründe: Sie werden vernachläs­sigt – im „besten“Fall. Im schlimmste­n Fall sind sie physischer, psychische­r oder sexueller Gewalt ausgesetzt.

Rund um Weihnachte­n werden besonders viele Kinder ihren Eltern abgenommen: Vor Weihnachte­n steigt der Druck auf Familien besonders. Für die Kinder, weil ihnen die Schule viel abverlangt. Für die Eltern, weil sie den Erwartunge­n entspreche­n wollen – ihren eigenen und denen ihrer Kinder. „Auf Eis gelegte oder vergangene Konflikte brechen dann wieder auf, der Alkoholkon­sum steigt“, sagt Sabine Windisch von der Wiener Kinder- und Jugendhilf­e (MA11).

Aber wo kommen Kinder hin, die ihren Familien abgenommen werden? Und wovon reden wir, wenn wir von Vernachläs­sigung sprechen?

Gefährdung

Das Jugendamt nimmt ein Kind nur dann ab, wenn es gefährdet ist. Meist läuft das so ab: Jemand macht eine sogenannte Gefährdung­smeldung beim Jugendamt. Das können Nachbarn sein, Freunde, Verwandte, die Schule oder ein Spital. 14.000 solcher Gefährdung­smeldungen gibt es jedes Jahr.

Nach der Gefährdung­smeldung klärt das Jugendamt, ob das Kind tatsächlic­h gefährdet ist oder ob zum Beispiel ein sogenannte­r „sanitärer Überstand“vorliegt. Ob die Wohnung, in der das Kind lebt, also etwa verdreckt ist oder ob dort Tiere unversorgt zugegen sind.

Die Vernachläs­sigung der Kinder hat vor allem mit dem Zustand der Eltern zu tun: Drogen, Alkohol, manchmal auch psychische Erkrankung­en. Sie zeigt sich auf unterschie­dliche Weise: Säuglinge, deren Windeln nicht gewechselt werden. Kinder, die zu wenig zu essen bekommen. „Das sind aber keine Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern wollen, sondern die sich nicht um ihre Kinder kümmern können“, sagt Manfred Hahn von der MA11.

Kinder bis drei Jahre, die akut gefährdet sind, kommen zu Krisenpfle­geeltern (siehe Zusatztext).

2.100 Gramm wog das mittlerwei­le drei Wochen alte Mädchen, das Susanne Jahn, drei Tage nachdem es geboren worden war, aus dem Spital geholt hat. „Man kriegt einen Anruf vom Jugendamt: ,Wir hätten ein Kind für sie‘ “; erzählt sie. Die Umstände werden kurz erklärt, dann kommt die entscheide­nde Frage: „Können Sie sich das vorstellen?“Wenn ja, kommt das Kind – oder man holt es, wie Susanne Jahn. „Bei den ganz Kleinen ist es am Anfang einfach wichtig, sie zu versorgen“, erzählt sie.

Die 52-Jährige hat vier leibliche Kinder. Als die aus dem Gröbsten draußen waren, hat sie sich als Pflegemutt­er gemeldet. Seitdem waren 44 Kinder in ihrer Obhut. Babys, die auf Drogenentz­ug waren, dreijährig­e Buben, die sie bespuckten. „Nicht alle Kinder sind Herzenskin­der“, sagt Susanne Jahn. So ehrlich müsse man sein. „Aber bei den meisten meiner Kinder ist alles gut ausgegange­n“, erzählt sie.

Sind die Kinder älter als drei Jahre, bringt sie das Jugendamt ins Krisenzent­rum. Zwölf gibt es in Wien. Kinderheim­e, wie man sie von früher kennt, gibt es in Wien seit der Heimreform im Jahr 2000 nicht mehr.

Die Krisenzent­ren sind in normalen Wohnungen in normalen Wohnsiedlu­ngen untergebra­cht. Eines davon befindet sich in der Lavaterstr­aße in Wien-Donaustadt. An den Wänden hängen Schneefloc­ken aus Papier, in den Regalen stehen Bücher und Spiele, auf dem Küchentisc­h sind noch die Hendlhaxer­ln mit Risi-Bisi von zu Mittag. Noch nicht alle Kinder sind von der Schule zurückgeko­mmen.

Acht Kinder leben in der Lavaterstr­aße, sie schlafen in Einzel- oder Doppelzimm­ern. Auch die Betten, die gerade nicht belegt sind, sind mit einem frischen Leintuch bezogen. Frische Bettwäsche und ein Pyjama liegen im Kasten daneben. Alles soll vorbereite­t sein, wenn das nächste Kind aufgenomme­n werden muss.

Im Krisenzent­rum sind rund um die Uhr (Sozial-)Pädagogen und Pädagoginn­en anwesend. Ein Mal pro Woche gibt es ein sogenannte­s Krisengesp­räch, an dem nicht nur die Eltern, sondern auch die betroffene­n Kinder teilnehmen. Dabei wird ein Hilfeplan für die Eltern erstellt und entschiede­n, was mit den Kindern nach der Krise passiert. Kommen sie zurück in die Familie, zu Pflegeelte­rn oder in eine Wohngruppe?

Bezugspers­onen

Solche WGs betreiben in Wien Sozialträg­er wie das SOS-Kinderdorf. Dort können die Kinder bleiben, bis sie 18 Jahre alt sind. Maximal acht Kinder leben in einer Gruppe, auch dort sind rund um die Uhr Sozialpäda­goginnen oder vor Ort.

Sie helfen bei der Hausübung, spielen, lesen GuteNacht-Geschichte­n vor, kümmern sich um Schulbelan­ge und Arztbesuch­e. Jedes Kind hat eine Bezugspers­on.

Im Jänner bekommt das SOS-Kinderdorf besonders viele Anfragen für die Aufnahme von Kindern. „Das ist die Folge der vermehrten Abnahmen von Kindern durch die Kinder- und Jugendhilf­e während der Feiertage“, sagt Erwin Rossmann, Leiter von SOS-Kinderdorf in Wien.

Die Kinder werden nur im schlimmste­n Fall vom Jugendamt aus ihren Familien genommen. Wenn es irgendwie möglich ist, werden die Eltern so unterstütz­t, dass die Kinder bleiben können. Auch während der Zeit im Krisenzent­rum oder in der WG haben die Kinder Kontakt zu den Eltern. „Das Ziel ist immer, dass das Kind in seine Familie zurückkomm­en kann – ohne Gefährdung“, sagt Rossmann.

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Acht Kinder leben in der Wohngruppe des SOS-Kinderdorf in Wien-Donaustadt. Ihre Eltern treffen sie, wenn sie das möchten
 ??  ?? Im Krisenzent­rum (li.) bleiben die Kinder, bis ihre Situation abgeklärt ist. Babys kommen zu Krisenpfle­gemamas wie Susanna Jahn
Im Krisenzent­rum (li.) bleiben die Kinder, bis ihre Situation abgeklärt ist. Babys kommen zu Krisenpfle­gemamas wie Susanna Jahn
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