Die Forscherin, die Leben veränderte
Die Historikerin Barbara Stelzl-Marx enttabuisierte Besatzungskinder und entdeckte den Holocaust vor der Haustür.
Alles begann – mit einem Zufall: Anfang der 1990er saß eine junge Anglistik- und Russisch-Studentin am Flughafen in Wolgograd, wo sie ein Auslandssemester absolvierte. Irgendwie kam Barbara StelzlMarx mit einem Herrn ins Gespräch, der sich als Stefan Karner entpuppte. Der war damals eine Berühmtheit, hatte er 1991 doch als erster westlicher Historiker Zugang zu den damals noch streng geheimen, sowjetischen Archiven erhalten. Und darüber unterhielten sich die beiden.
Die junge Russisch-Studentin war begeistert und dachte: „Wäre gut für meine Sprachkenntnisse, dort eine Zeit lang zu arbeiten. Danach bin ich erstmals ins Archiv gefahren“, erzählt sie im Gespräch mit dem KURIER.
Ein Geschichte-Studium – abgeschlossen mit ausgezeichneten Erfolg – und viele Forschungsarbeiten unter anderem über Besatzungskinder und Migration folgten. Heute wurde die Grazer Historikerin in Wien zur Wissenschafterin des Jahres gekürt.
Die Archive entpuppten sich übrigens als Fundgrube: Die Personalakten von etwa 130.000 Österreichern, die während des Zweiten Weltkrieges in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren, lagern dort. Der Grundstein für die Forschungen des zwei Jahre später gegründeten Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung war gelegt, und Karner wurde mit der Leitung betraut. „Er fragte mich, ob ich als Assistentin mitarbeiten wolle“, erinnert sich Stelzl-Marx. Natürlich wollte sie.
Den Putsch 1993 hat sie hautnahe miterlebt: „Da war ich in Moskau und habe im Archiv gearbeitet.“StelzlMarx erkannt: Das ist Zeitgeschichte, die da passiert.
Lebendige Geschichte
Durch die Öffnung der Archive bekamen viele Österreicher Auskunft über das Schicksal ihrer in sowjetischer Gefangenschaft festgehaltenen Angehörigen. Später hat sich Stelzl-Marx intensiv mit dem Schicksal der Besatzungskinder – jenen Kindern, die zwischen 1945 und 1955 von alliierten Soldaten mit Österreicherinnen gezeugt wurden – befasst. Es waren wissenschaftliche Erkenntnisse, die Leben veränderten: „Lange galten Besatzungskinder als Kinder des Feindes, die von einer Mauer des Schweigens umgeben waren. Durch meine Arbeit war es möglich, eine Enttabuisierung einzuleiten, und auch eine Vernetzung der Betroffenen. Eine Frau hat mir einmal erzählt, sie dachte immer, sie sei das einzige Besatzungskind in ganz Österreich.“Plötzlich erkannte sie, dass es noch weitere wie sie gibt. 30.000 Österreicher, schätzt die Historikerin, stammen von Besatzungssoldaten ab.
„Ich mag es, wissenschaftliches Neuland zu betreten und Dinge zu erforschen, die gesellschaftliche Relevanz haben“, ergänzt die Historikerin. Wie ihre Studie über das Lager Graz Liebenau. In den 1990ern war die Historikerin auf das Zwangsarbeiterlager gestoßen – eine Zwischenstation auf den Todesmärschen ungarischer Juden ins KZ Mauthausen: „Damals dachte ich: ‚Wow, das war mir nicht bewusst, dass der Holocaust direkt vor unserer Haustür stattgefunden hat‘“, erzählt sie. Heute ist diese Tatsache dank ihrer Forschung und einer Ausstellung im kollektiZweiten ven Gedächtnis der Grazer verankert.
Ihre Erkenntnisse hat Stelzl-Marx in berührende Bücher gepackt, die trotz einfacher Sprache nichts vereinfachen. So würdigte es Eva Stanzl, die Vorsitzende des Klubs der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten, bei der Bekanntgabe der Preisträgerin.
Was die Historikerin künftig erforschen will? „Den Kalten Krieg, die Spionage, das Jahr 1989 und Kinder des Krieges.“Auch das Ende des Weltkrieges, das sich heuer zum 75. Mal jährt, sowie das Lebensborn-Projekt, mit dem die Nazis für mehr arischen Nachwuchs sorgen wollten, interessieren sie. Was sie spitzt? „Wehrmachtskinder in der Sowjetunion – in Russland ein echtes Tabuthema.“
Und weil wir vorhin gesellschaftliche Relevanz ansprachen: Im Vorjahr hat die Wissenschafterin des Jahres 2019 gemeinsam mit dem Wissenschafter des Jahres 1995 ein Buch über Migration im 20. Jahrhundert herausgebracht. „Daraus kann man viel über Feindbilder lernen“, sagt sie.
Wenn Sie sich jetzt fragen, wer der Wissenschafter des Jahres 1995 war: Stefan Karner, der Mann vom Flughafen, der ihre Karriere mitbestimmt hat und dem sie im Vorjahr als Leiterin des Ludwig Boltzmann Institutes folgte. „Ich kenne diese Auszeichnung also bereits sehr lange: 1995 als Professor Karner sie erhielt, war ich schon dabei. Es ist eine ganz tolle Sache.“