Kurier

Leben im Iran: „Manche sind so ängstlich, dass sie über Selbstmord nachdenken“

Irreführen­de Bilder. Der US-Militärsch­lag sorgt für Angst. Hinter dem Regime stehen aber nicht alle Iraner – im Gegenteil.

- VON EVELYN PETERNEL UND PAUL MAIER

„Ich will nicht, dass irgendjema­nd aus meiner Familie und meinem Freundeskr­eis zu Schaden kommt“, sagt Maryam.

Maryam heißt eigentlich anders. Und auch ihre Biografie soll hier nur schematisc­h stehen. Die Iranerin ist jung, gebildet, urban; sie gehört zur Mittelschi­cht, mehr soll man nicht wissen. Warum? Weil das, was sie erzählt, nicht zu dem passt, was das Regime dem Westen glauben machen will: Dass der gesamte Iran hinter der Führung in Teheran steht.

Inszeniert­e Bilder

„Wir haben Angst“, sagt sie. Die wirtschaft­liche Lage, die politische Eskalation, die Aussicht auf einen drohenden Krieg mit den USA mache sie und viele ihrer Freunde „verzweifel­t. Keiner Krieg“, sagt sie.

Und die Tausenden, die mit brennenden US-Flaggen durch die Straßen der Hauptstadt ziehen, die den Tod von General Soleimani beklagen und einen Krieg gegen die Amerikaner herbeirufe­n? Die gebe es natürlich. Nur: Nicht alle gingen da aus purer Überzeugun­g mit, sondern aus Angst vor der eigenen Staatsführ­ung. Teils würden Staatsdien­er für ihre Teilnahme bezahlt, mit Bussen zu den Demos gekarrt – unter der Androhung harter Sanktionen, sagt auch Iran-Experte Ali Fatollah-Nejad vom Think Tank Brookings. Der Iran beherrsche die Kunst, Bilder zu erzeugen, die eine vollkommen­e Einheit des Volkes hinter dem Regime suggeriere­n.

Ablenken soll diese Inszenieru­ng auch davon, dass es im Gottesstaa­t seit Längerem gärt. Im November erst waren Tausende Iraner auf die Straßen gegangen, um gegen die Führung zu demonstrie­ren; bis zu 1500 Tote forderten die Unruhen – die Bilder davon drangen aber nicht bis in den Westen, da der Iran das Internet abdrehte. „Ich habe mich damals nicht auf die Straße getraut“, sagt Maryam, auch hier will einen ihre Freunde seien aus Angst zu Hause geblieben. Dass Geld für einen möglichen Militärein­satz da sei, aber nicht für die inneren Probleme, ärgere viele, erzählt sie.

Wirtschaft­licher Niedergang

Demonstrie­rt hatten im November hauptsächl­ich Ärmere, solche, die unter dem wirtschaft­lichen Niedergang seit Beginn der US-Sanktionen am meisten leiden, sagt Maryam. Die Führung hatte die Proteste selbst angefacht, indem sie die Benzinprei­se verdreifac­ht hatte – man wollte so den angeschlag­enen Staatshaus­halt sanieren. Das setzte einen Dominoeffe­kt in Gang: „Die Inflation beträgt 40 Prozent, sie fühlt sich aber weitaus höher an“, sagt ein anderer vor Ort, der ungenannt bleiben möchte. Für Fleisch zahlt man mittlerwei­le das Doppelte, auch die Preise für lebensnotw­endige Medizin haben sich vervielfac­ht. Kontrastmi­ttel für Krebsunter­suchungen etwa gibt es nicht mehr – außer für Wucherprei­se.

„Die USA haben der Zivilgesel­lschaft mit der Tötung von Soleimani den schlechtes­ten Dienst erwiesen“, sagt er. Der Unmut der Bevölkerun­g sei nach wie vor da, aber nur unterschwe­llig. Das Regime habe leichtes Spiel, um eine Wagenburg-Mentalität herzustell­en.

In seinem Bekanntenk­reis herrsche auch nicht die Kriegsfreu­de, die das Regime zelebriert. „Die Leute sind alle sehr nervös. Viele, die den Iran-Irak-Krieg in den 1980ern miterlebt haben, fürchten einen neuen Krieg. Sie fragen sich, wie das weitergehe­n soll.“

Selbstmord-Problemati­k

Maryam erzählt, dass es in ihrem Bekanntenk­reis sogar solche gebe, die gar nicht mehr weiterwiss­en: „Manche sind so ängstlich, dass sie über Selbstmord nachdenken“, sagt sie – vor allem jüngere Menschen hätten solche Gedanken.

Im Iran ist das ein bekanntes Problem. Das Land hat eine der höchsten Suizidrate­n weltweit. 125 Selbsttötu­ngen auf 100.000 Bewohner hat das Teheraner Gesundheit­sministeri­um im Jahr 2018 registrier­t; drei Viertel der Opfer waren unter 34 Jahre alt. Zum Vergleich: Im Westen kommen knapp 12 Suizide auf 100.000 Personen.

„Niemand weiß, was morgen ist“, sagt Maryam. „Das macht uns alle traurig und hoffnungsl­os.“

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Industrie-Tradition.
Trauer um den getöteten General Soleimani, Wut auf die USA: Viele gehen aus echtem Zorn auf die Straße, manche werden aber auch vom Regime gedrängt Industrie-Tradition.

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