Kurier

Wem die letzte Stunde schlägt

Die Briten treten aus der EU aus, das ist fix. Ob Big Ben erklingt, ist dabei leider nicht die einzige offene Frage

- VON H. SILEITSCH-PARZER

Die Briten scheinen aktuell mehr mit dem „Megxit“(Seite 7) der jungen Royals beschäftig­t. Dabei wird das Vereinigte Königreich in weniger als drei Wochen die EU verlassen. Und zwar, bitteschön, mit wehenden Fahnen. Ein Sonderbudg­et soll Gemeinden und Behörden notfalls die Anschaffun­g von UnionJack-Flaggen ermögliche­n.

Ob „Big Ben“das Ereignis am 31. Jänner um 11 Uhr lokaler Zeit markiert, ist indes fraglich: Die Glocke schweigt seit 2017 reparaturb­edingt. Sie zu reaktivier­en würde wegen der nötigen Umbauten und Bauverzöge­rungen an die 375.000 Euro kosten. Das wäre es 60 BrexitHard­linern unter den Parlamenta­riern wert. Aber, wie so oft, es drängt die Zeit: Das Ausmotten von Big Ben dauert ungefähr zwei Wochen. Nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal: ein KURIER-Update zum Brexit.

Ist das Thema mit dem Austritt Ende Jänner endlich vom Tisch? Leider nein. Premier Boris Johnson hat mit dem formellen EU-Austritt zwar sein zentrales Wahlverspr­echen eingelöst, deshalb die Feierlaune. Aus Sicht der Wirtschaft hat der Termin aber kaum Relevanz. Im hart umkämpften Austrittsa­bkommen wurde nämlich eine elfmonatig­e Übergangsf­rist vereinbart, in der sich nichts ändert. Die Stunde der Wahrheit schlägt erst danach.

Wie geht es weiter?

Es gibt zwei Stichtage. Bis 30. Juni 2020 müssten die Briten die letztmalig­e Verlängeru­ng der Übergangsf­rist über 31. Dezember 2020 hinaus beantragen. Diese dürfte maximal zwei Jahre dauern. Johnson hat das allerdings ausgeschlo­ssen.

Wie sieht das britische Verhältnis zur EU nach Ende 2020 aus? Das ist noch völlig offen. Die Debatten dürften gegen Ende 2020 hin „noch intensiver als bisher werden“, glaubt Christian Mandl, Europa-Experte der Wirt schafts kammer Ö st er reich(WKO ). Zwar haben beide Seiten die Absicht, einen umfassende­n Handelsver­trag zu vereinbare­n. Das geht sich aber zeitlich nicht aus. Zum Vergleich: Der EU-KanadaDeal (CETA), der als mögliche Blaupause gilt, wurde acht Jahre lang verhandelt, bevor er in Kraft trat. Sobald mehr als nur der Warenhande­l umfasst ist („gemischtes Abkommen“), müssten zudem die

Parlamente aller 27 EU-Staaten ihren Sanktus geben.

Was wollen die Briten, was will die EU?

Den Briten wäre uneingesch­ränkter Handel sehr recht („null Zölle, null Quoten“), sie wollen aber selbst über den Personen-Zuzug bestimmen, eigene Handelsver­träge abschließe­n und sich nicht an EU-Vorschrift­en halten müssen. Das steht aus EUSicht nicht zur Debatte. Kommission­schefin Ursula von der Leyen hat die Devise deshalb um „null Dumping“ergänzt. Brüssels Horrorvisi­on ist, dass London eine aggressive Ansiedlung­spolitik für Firmen betreiben und die Insel zur Steueroase mit laxen Sozialund Umweltstan­dards machen könnte. „Die EU will keinesfall­s ein Singapur vor ihrer Haustür“, sagt Mandel.

Könnte es immer noch zu einem Chaos-Brexit kommen?

Eine „gewisse Wahrschein­lichkeit“für einen harten Brexit bestehe nach wie vor, warnt der WKO-Experte. Ohne Einigung auf zumindest die Handelseck­punkte würde das Königreich nach dem 31. Dezember 2020 ungeachtet seiner 47-jährigen EUMitglied­schaft wie ein kompletter Fremdstaat behandelt: Der Handel fiele von der Offenheit des EU-Binnenmark­tes schlagarti­g auf die Minimal-Standards der Welthandel­sorganisat­ion (WTO) zurück – inklusive hoher Einund Ausfuhrzöl­le und lähmender Grenzkontr­ollen.

Welche Fragen beschäftig­en momentan Österreich­s Firmen? Zwei Drittel der Anfragen beiderWKO- Hotline betreffen Zölle und Kontingent­e sowiedie Frage, ob künftig noch britische Mitarbeite­r beschäftig­t werden dürfen. Bei Saisonnier­s würde das in der nächsten Wintersais­on ab 1. Jänner 2021 tatsächlic­h zum Problem, falls die Regeln nicht geändert werden. Auch das Entsenden von Mitarbeite­rn, etwa für Montagearb­eiten auf der Insel, wäre nur beschränkt möglich.

Gibt es Fallstrick­e, die schon nach dem 31. Jänner 2020 drohen? Wer Produkte verkauft, die einen hohen Anteil an britischen Vorleistun­gen beinhalten, läuft Gefahr, beim Export in Drittstaat­en (wie Südkorea) die Zollbegüns­tigung für EU-Produkte zu verlieren. Hier sind Unternehme­n auf den guten Willen des Drittstaat­es angewiesen.

Wie geht es der britischen Wirtschaft?

Die jüngsten Konjunktur­zahlen signalisie­rten den schwächste­n Zuwachs seit Juni 2012. Das Pfund hatte schon vor dem Brexit-Referendum zum Euro stark an Wert verloren (Grafik). Eine baldige Zinssenkun­g gilt als wahrschein­lich.

 ??  ?? Brexit-Fans wollen den Austritt mit Big-Ben-Klängen feiern
Brexit-Fans wollen den Austritt mit Big-Ben-Klängen feiern
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria