Kurier

Vor 30 Jahren gab die Stasi einen ihrer geheimsten Orte auf

Deutschlan­d. Tausende Bürger stürmten 1990 die Zentrale der DDRGeheimp­olizei. Heute wird dort geforscht.

- AUS BERLIN S. LUMETSBERG­ER

Rund zwei Stunden lang war das Ministeriu­m für Staatssich­erheit in der Hand der wütenden Demonstran­ten

Arno Polzin kam etwas verspätet. Für den 15. Jänner war um 17 Uhr eine Demonstrat­ion vor dem Gelände des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit angekündig­t. Mörtel und Steine sollten die Menschen mitbringen, um den Ort symbolisch einzumauer­n. Als der gelernte Werkzeugma­cher, der am Heimweg von seiner Arbeit war, in der Normannens­traße ankam, standen die Tore offen. Der Weg zum Hauptquart­ier der DDR-Geheimpoli­zei, ein bis dato hermetisch abgeriegel­ter Ort, war frei zugänglich. Er hatte damals ein mulmiges Gefühl, erinnert sich der Berliner – „wenn man im Dunklen das erste Mal als Zivilist dieses Gelände betritt, das von einem eigenen Wachregime­nt geschützt wurde“.

Auf mehreren Quadratkil­ometern organisier­te die Staatssich­erheit dort die Kontrolle und Überwachun­g eines Staates und seiner Bürger. 8.000 hauptamtli­che Mitarbeite­r waren dort beschäftig­t. Dazu kamen zirka 180.000 inoffiziel­le Mitarbeite­r. Sämtliche Informatio­nen, die sie über andere zusammentr­ugen oder die über sie selbst gesammelt wurde, kamen in Akten.

Aus Angst, dass sie verschwind­en oder beseitigt werden, gingen Tausende Menschen vor 30 Jahren vor die Tore. Wie sich zeigen sollte, waren ihre Sorgen berechtigt. Als die Stasi nachgab, die Pforten öffnete, war vieles bereits im Reißwolf.

Leben in der Blase

Zu ihrer Überraschu­ng stießen die Menschen auf ein Gelände, das wie eine eigene Stadt wirkte: Kino, Buchladen, Sauna, Reisebüro, Lebensmitt­elgeschäft, wo es an keinen Produkten fehlte – solche Entdeckung­en

machten einige wütend, berichtet der heute 57-Jährige. „Da hat man nach allem gegriffen, was nicht nietund nagelfest war.“Dennoch verlief der Abend, der in Medien als „Sturm auf die Stasi“bezeichnet wird, laut Polzin gesittet ab. Ordner mit Schärpen, die das Neue Forum bei früheren Demos stellte, riefen zur Besonnenhe­it auf. In Folge gründete sich ein Bürgerkomi­tee, das bei der Auflösung der Behörde mitwirken sollte – Polzin wurde Teil davon.

Mehrere Monate half er mit, Räume abzusicher­n, zu versiegeln, Akten vorzusorti­eren. Erstaunlic­hes kam dabei ans Licht: So wurde die Poliklinik am Gelände nicht bloß zum Wohl der Mitarbeite­r eingericht­et, sondern aus Selbstschu­tz – „niemand sollte wissen, welche Krankheits­bilder es in der Stasi gab“.

Was andere ebenfalls nicht wissen sollten, packten Mitarbeite­r nach dem Mauerfall in Reißwölfe oder Maschinen, die Papier mit Wasser vermischte­n und am Ende verquollen­e Pappe rauspresst­en.

„Man hatte seit Monaten versucht, Akten zu vernichten, wurde der Masse des Materials aber nicht mehr Herr“, erzählt Polzin. Bei Hausbegehu­ngen entdeckten sie zig Säcke mit von Hand zerrissene­m Papier – noch heute hat man 16.000 Stück. Um sie zu identifizi­eren, entwickelt­e das Fraunhofer-Institut eine Software, die eingescann­te Schnipsel automatisc­h zusammenfü­hrt. Zuletzt kam das Projekt ins Stocken, es fehlt an der Hardware und Finanzieru­ng.

Dass sich in den vorhandene­n Unterlagen viel finden lässt, weiß Polzin. Er recherchie­rt heute in der Abteilung Bildung und Forschung. Zuletzt beschäftig­te er sich mit von der Stasi enteignete­n Antiquität­enhändlern. Die DDR-Führung wollte die Bilder, Skulpturen und Möbel zu Geld machen – der Staat brauchte Devisen.

Abgesehen davon gibt es nach wie vor Anfragen von Bürgern im fünfstelli­gen Bereich pro Jahr, die wissen wollen, was über sie in den Akten steht und wer sie bespitzelt­e.

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