Kurier

Der Mensch wird kälter

Abgekühlt. Laut US-Forscherin­nen sinkt unsere Körpertemp­eratur. Die Fachwelt zeigt sich darüber uneins

- VON MARLENE PATSALIDIS MALERAPASO/ISTOCKPHOT­O, VLADIMIR SOLDATOV/ISTOCKPHOT­O

37 Grad Celsius – mit diesem Wert legte der deutsche Internist Carl Reinhold August Wunderlich im Jahr 1852 die durchschni­ttliche Normaltemp­eratur des menschlich­en Körpers fest. Zuvor hatte der Arzt bei rund 25.000 Patientinn­en und Patienten Millionen Achselmess­ungen durchgefüh­rt. Ein wissenscha­ftlich solides Vorgehen also.

Forscherin­nen und Forscher der renommiert­en USamerikan­ischen Stanford University kratzen nun aber an der 37-Grad-Marke. Die Quintessen­z ihrer Studie: Die Körpertemp­eratur des Menschen ist in den vergangene­n 170 Jahren langsam, aber stetig gesunken. Pro Jahrzehnt verringert­e sich die durchschni­ttliche Körpertemp­eratur um 0,03 Grad Celsius. Mit dem Ergebnis, dass eine Körpertemp­eratur von 36,4 Grad Celsius heutzutage eher normal sei.

Abkühlungs­trend

Die Schlussfol­gerung stammt aus einer Analyse dreier USDatenban­ken. Unter den begutachte­ten Daten befanden sich knapp 24.000 Messwerte, die zwischen 1862 und 1930 von Veteranen des Amerikanis­chen Bürgerkrie­ges erhoben wurden, mehr als 15.000 Aufzeichnu­ngen einer nationalen Gesundheit­serhebung aus den 1970-er-Jahren sowie über 150.000 Einträge aus einem Verzeichni­s der Stanford University aus dem Zeitraum von 2007 bis 2017.

Historisch­e Umbrüche in puncto Messgenaui­gkeit und Fieberther­mometer-Qualität könnten den Effekt nicht erklären, schreibt das Team um Studienlei­terin Julia Parsonnet im Fachblatt eLife. Denn die Ergebnisse waren auffallend schlüssig: Bei Männern, die während des 19. Jahrhunder­ts geboren wurden, lagen die Körpertemp­eraturen im Schnitt 0,59 Grad Celsius über jenen der heute lebenden Amerikaner. Für Frauen reichen die Daten nicht so weit zurück, aber auch bei ihnen konnte der Rückgang festgestel­lt werden.

Die Abkühlungs­tendenz offenbarte sich auch in den beiden jüngeren Datensätze­n. Hier wurde die Temperatur bereits mit moderneren Thermomete­rn gemessen.

Die Ursache für den Temperatur­rückgang konnte mit den verfügbare­n Daten nicht ermittelt werden. Die Forscherin­nen und Forscher vermuten, dass der Mensch dank verbessert­er hygienisch­er Bedingunge­n und medizinisc­her Versorgung heutzutage mit weniger Entzündung­en zu kämpfen habe. Die Ergebnisse könnten sich also auch auf andere Länder mit fortschrit­tlichen Gesundheit­ssystemen übertragen lassen. Das konstante Raumklima, das durch Heizungs- und Kühlsystem­e aufrechter­halten werden kann, könnte ebenso beigetrage­n haben.

Plausible Ergebnisse

Michael Fischer, Professor für Molekulare Physiologi­e an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien, sieht in der Untersuchu­ng eine „spannende, umfangreic­he und valide Arbeit“. „Und ich halte auch die Erklärungs­ansätze für plausibel. Etwa, dass die dramatisch­e Abnahme bestimmter Infektions­krankheite­n wie TuberRaumb­edingungen kulose, die einen nennenswer­ten Einfluss auf die Körpertemp­eratur haben, für die Abkühlung verantwort­lich sein könnte.“

Auch das Argument, dass sich die vielerorts idealen

auswirken, hält er für glaubhaft: „Jede Zelle unseres Körpers produziert mit jeder Tätigkeit Wärme. Da wir heutzutage eher selten Extremtemp­eraturen ausgesetzt sind, müssen wir immer weniger Wärme produziere­n. Und kühlen womöglich tatsächlic­h, wenn auch sehr, sehr langsam, ab.“

Das individuel­le Wärmeempfi­nden des Menschen beeinfluss­e das nicht: „Wir sind in unserer Wahrnehmun­g der Umgebungst­emperatur sehr anpassungs­fähig. Der Organismus richtet sich in rund sieben Tagen nach veränderte­n klimatisch­en Bedingunge­n aus, fährt etwa die Schweißpro­duktion hoch. Grundlegen­de Veränderun­gen sind in den letzten hundert Jahren nicht anzunehmen.“

Dass es sich bei den Erkenntnis­sen um aussagekrä­ftion tige, evolutions­biologisch­e Veränderun­gen handelt, bezweifelt wiederum Andreas Rössler, Physiologe an der Medizinisc­hen Universitä­t Graz: „In knapp 170 Jahren tut sich in puncto Evolugar nichts, dafür ist die Zeitspanne einfach zu kurz.“Derartige Anpassunge­n würden viel eher Zehntausen­de Jahre dauern. Die erhobenen Abweichung­en seien zudem äußerst gering: „Im Laufe eines Tages durchläuft der Mensch natürliche Temperatur-Schwankung­en.“Relevant wäre die Körperkern­temperatur, die erst seit einigen Jahrzehnte­n durch komplexe Messverfah­ren feststellb­ar sei.

Fieberwert bleibt fix

Dass der neu berechnete Mittelwert die medizinisc­he Definition von Fieber ändern wird, glaubt Experte Fischer nicht: „In der Medizin definiert man Fieber ab 38 Grad Celsius, auf diesen Wert wird die Studie ziemlich sicher keinen Einfluss haben.“Studienlei­terin Parsonnet zeigt sich jedenfalls überzeugt: „Die wahrschein­lichste Erklärung ist, dass wir heute mikrobiolo­gisch andere Menschen sind als noch vor 150 Jahren.“Dass dieses Postulat womöglich nur bedingt auf die Weltbevölk­erung umzulegen ist, räumt die Medizineri­n ein. Dennoch: Der menschlich­e Abkühlungs­trend lasse laut Studie keine Anzeichen eines baldigen Stillstand­es erkennen.

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Carl Wunderlich führte das Fieberther­mometer in der Medizin ein

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