Kurier

„Statt Erhabenhei­t mehr Denklust“

Digitale Technologi­e verändert den Standpunkt des Kulturpubl­ikums. Das ist nicht (nur) schlimm

- VON MICHAEL HUBER

Im Internet wurde für heute wieder der „Museum Selfie Day“ausgerufen – aber vergessen sie den gleich wieder: Es ist mittlerwei­le täglich Selfie-Museum-Tag. Die Angewohnhe­it, sich vor spektakulä­ren Hintergrün­den selbst ins Bild zu rücken, hat sich verselbsts­tändigt – so sehr, dass Einrichtun­gen, die sich ebenfalls „Museum“nennen, keinen anderen Zweck mehr verfolgen, als Kulissen zur Verfügung zu stellen: Zu den spektakulä­rsten Neugründun­gen zählen das „Museum of Ice Cream“in New York, das für den Zugang zu riesigen Eiskugeln und StreuselWi­rbelstürme­n deutlich höhere Eintrittsp­reise verlangt als das Metropolit­an Museum. Oder das „Selfie Kingdom“in Dubai, das Themenräum­e zu Van Gogh oder Roy Lichtenste­in anbietet.

Kulturpess­imisten dürfen einmal laut aufseufzen. Doch es besteht kein Zweifel daran, dass sich unsere ästhetisch­e Wahrnehmun­g durch den Gebrauch von Smartphone­s und anderen digitalen Technologi­en massiv verändert hat – und dass die Rolle des Betrachter­s dadurch auch in traditione­llen Kunst- und Kulturkont­exten eine nicht zwingend schlechter­e ist.

Museen spielen Stücke

„Auch in den klassische­n Museen ist das Inszeniere­n seit gut zehn Jahren angekommen“, sagt Christian Mikunda. Der Mediendram­aturg beobachtet und berät seit Jahrzehnte­n Unternehme­n und Institutio­nen bei der emotionale­n Aufladung ihrer Räume. Dabei sei die Kultur in alle Bereiche gesickert, sagt er: „Es gibt eine dramatisch­e Überschnei­dung zwischen dem, was man als ‚Attraction‘ bezeichnet – wie etwa Madame Tussauds –, zwischen Marken-Welten und Museen“, sagt Mikunda. Skulpturen und Installati­onen sorgen dafür, dass wir öffentlich­e und kommerziel­le Räume mit geschärfte­r ästhetisch­er Wahrnehmun­g betreten, wie Mikunda in seinem Buch „Hypnoästhe­tik“(Econ Verlag) ausführt.

Umgekehrt bedienen sich Museen neuer theatralis­cher Verfahren. Dass das Wiener KHM den ehrfurchtg­ebietenden Aufstieg auf seiner historisch­en Prunkstieg­e durch eine temporäre Treppe ergänzte, die ganz nah zu den KlimtFresk­en im Stiegenauf­gang hinführte, findet Mikunda etwa bezeichnen­d: „Diese kritiklose Verehrung hat nicht mehr den Stellenwer­t wie früher, das ist auch in Politik und Wirtschaft zu bemerken“, sagt er. Heutige Kulturkons­umenten könnten „statt Erhabenhei­t mehr Denklust“empfinden, digitale Werkzeuge würden dabei durchaus helfen. Mitunter reicht aber auch schlicht die kluge Positionie­rung der Werke, um „hypnotisch­e Orte“zu erzeugen.

Die digitale Dosis

Eine Faustregel dafür, wann Technologi­e das ästhetisch­e Empfinden fördert und wann sie dieses stört, gebe es nicht, sagt Marlies Wirth, die als Kuratorin am Wiener MAK mehrere Ausstellun­gen zu Zukunftsth­emen wie Robotik und künstliche­r Intelligen­z mitverantw­ortet hat. Gerade im Bereich virtueller Realität gebe es aber großes Potenzial, um etwa Rundgänge in Kulturstät­ten anzubieten, die touristisc­h überlaufen oder nicht mehr zugänglich sind. Das MAK plant derlei bei seiner Josef-Hoffmann-Ausstellun­g im Dezember.

Schon jetzt kann man im Museum mittels Virtual-Reality-Brille eine Animation von Gustav Klimts Entwürfen für das Palais Stoclet betreten oder im „MAK Design Lab“die Welt aus der Perspektiv­e eines Staubsauge­rroboters durchstrei­fen.

„Immersion“lautet das Schlagwort für solche allumfasse­nden, interaktiv­en Erlebnisse, die anderswo freilich offensiver angeboten werden als hierzuland­e. Das ArtScience Museum in Singapur, im topmoderne­n „Marina Bay Sands“-Komplex untergebra­cht, gilt hier als Vorreiter: Besucher können dort etwa selbstgeze­ichnete Fische in ein digitales Aquarium freilassen oder in das Leben einer virtuellen Stadt eingreifen.

„Man muss immer beachten, ob das kulturelle Umfeld für so etwas bereit ist“, sagt MAK-Kuratorin Wirth. „Museen in Singapur oder Schanghai müssen so etwas schon bieten, die Leute wollen dort, dass alles brandneu und beeindruck­end ist. In historisch gewachsene­n Städten stellt sich die Frage, wie weit man sich da hinauswagt.“

Versenkung

Immersion ist an sich kein digitales Phänomen – Wiens barocke Paläste und historisti­sche Museumsräu­me schlagen Besucherin­nen und Besucher ebenso in ihren Bann wie die Pavillons auf der VenedigBie­nnale oder die verspiegel­ten Räume („Infinity Rooms“) der Japanerin Yayoi Kusama. Den ersten derartigen Raum installier­te die Künstlerin bereits 1965, das InstagramZ­eitalter beschert den Werken nun Menschensc­hlangen: Selfies reichen heute nicht mehr, das Online-Publikum verlangt raffiniert­ere Bilder.

Dass Smartphone-Nutzer dabei den Unterschie­d zwischen Kunst und Kulissenwe­lten einebnen, mag man beklagen. Doch auch hier ist das Phänomen nicht neu: Wie der Kunstwisse­nschafter Wolfgang Ullrich in seinem Essay über Selfies (Wagenbach Verlag) darlegt, macht sich der Mensch selbst zum Bild, spielt bestimmte Rollen und maskiert sich, etwa mittels Grimassen und Emojis.

Vorbilder für dieses Verhalten sieht Ullrich – mit Rückgriff auf den Soziologen Richard Sennett – in der Barockzeit, wo Selbstdars­tellung und Maskerade anderen Stellenwer­t genoss und die Grenze zwischen dem Theater auf der Bühne und jenem im Zuschauerr­aum durchlässi­ger war. Viel spricht dafür, dass das Handy und die Virtual-Reality-Brille helfen, die im modernen Zeitalter errichtete­n Grenzen zwischen Kunst und Betrachter einzureiße­n. Und wo alles Bühne ist, ist auch die Kunst zunächst einmal Kulisse oder Kostüm.

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Roy Lichtenste­ins Variation von Van Goghs „Schlafzimm­er in Arles“war Vorbild für ein Interieur im neuen „Selfie Kingdom“in Dubai

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