„Statt Erhabenheit mehr Denklust“
Digitale Technologie verändert den Standpunkt des Kulturpublikums. Das ist nicht (nur) schlimm
Im Internet wurde für heute wieder der „Museum Selfie Day“ausgerufen – aber vergessen sie den gleich wieder: Es ist mittlerweile täglich Selfie-Museum-Tag. Die Angewohnheit, sich vor spektakulären Hintergründen selbst ins Bild zu rücken, hat sich verselbstständigt – so sehr, dass Einrichtungen, die sich ebenfalls „Museum“nennen, keinen anderen Zweck mehr verfolgen, als Kulissen zur Verfügung zu stellen: Zu den spektakulärsten Neugründungen zählen das „Museum of Ice Cream“in New York, das für den Zugang zu riesigen Eiskugeln und StreuselWirbelstürmen deutlich höhere Eintrittspreise verlangt als das Metropolitan Museum. Oder das „Selfie Kingdom“in Dubai, das Themenräume zu Van Gogh oder Roy Lichtenstein anbietet.
Kulturpessimisten dürfen einmal laut aufseufzen. Doch es besteht kein Zweifel daran, dass sich unsere ästhetische Wahrnehmung durch den Gebrauch von Smartphones und anderen digitalen Technologien massiv verändert hat – und dass die Rolle des Betrachters dadurch auch in traditionellen Kunst- und Kulturkontexten eine nicht zwingend schlechtere ist.
Museen spielen Stücke
„Auch in den klassischen Museen ist das Inszenieren seit gut zehn Jahren angekommen“, sagt Christian Mikunda. Der Mediendramaturg beobachtet und berät seit Jahrzehnten Unternehmen und Institutionen bei der emotionalen Aufladung ihrer Räume. Dabei sei die Kultur in alle Bereiche gesickert, sagt er: „Es gibt eine dramatische Überschneidung zwischen dem, was man als ‚Attraction‘ bezeichnet – wie etwa Madame Tussauds –, zwischen Marken-Welten und Museen“, sagt Mikunda. Skulpturen und Installationen sorgen dafür, dass wir öffentliche und kommerzielle Räume mit geschärfter ästhetischer Wahrnehmung betreten, wie Mikunda in seinem Buch „Hypnoästhetik“(Econ Verlag) ausführt.
Umgekehrt bedienen sich Museen neuer theatralischer Verfahren. Dass das Wiener KHM den ehrfurchtgebietenden Aufstieg auf seiner historischen Prunkstiege durch eine temporäre Treppe ergänzte, die ganz nah zu den KlimtFresken im Stiegenaufgang hinführte, findet Mikunda etwa bezeichnend: „Diese kritiklose Verehrung hat nicht mehr den Stellenwert wie früher, das ist auch in Politik und Wirtschaft zu bemerken“, sagt er. Heutige Kulturkonsumenten könnten „statt Erhabenheit mehr Denklust“empfinden, digitale Werkzeuge würden dabei durchaus helfen. Mitunter reicht aber auch schlicht die kluge Positionierung der Werke, um „hypnotische Orte“zu erzeugen.
Die digitale Dosis
Eine Faustregel dafür, wann Technologie das ästhetische Empfinden fördert und wann sie dieses stört, gebe es nicht, sagt Marlies Wirth, die als Kuratorin am Wiener MAK mehrere Ausstellungen zu Zukunftsthemen wie Robotik und künstlicher Intelligenz mitverantwortet hat. Gerade im Bereich virtueller Realität gebe es aber großes Potenzial, um etwa Rundgänge in Kulturstätten anzubieten, die touristisch überlaufen oder nicht mehr zugänglich sind. Das MAK plant derlei bei seiner Josef-Hoffmann-Ausstellung im Dezember.
Schon jetzt kann man im Museum mittels Virtual-Reality-Brille eine Animation von Gustav Klimts Entwürfen für das Palais Stoclet betreten oder im „MAK Design Lab“die Welt aus der Perspektive eines Staubsaugerroboters durchstreifen.
„Immersion“lautet das Schlagwort für solche allumfassenden, interaktiven Erlebnisse, die anderswo freilich offensiver angeboten werden als hierzulande. Das ArtScience Museum in Singapur, im topmodernen „Marina Bay Sands“-Komplex untergebracht, gilt hier als Vorreiter: Besucher können dort etwa selbstgezeichnete Fische in ein digitales Aquarium freilassen oder in das Leben einer virtuellen Stadt eingreifen.
„Man muss immer beachten, ob das kulturelle Umfeld für so etwas bereit ist“, sagt MAK-Kuratorin Wirth. „Museen in Singapur oder Schanghai müssen so etwas schon bieten, die Leute wollen dort, dass alles brandneu und beeindruckend ist. In historisch gewachsenen Städten stellt sich die Frage, wie weit man sich da hinauswagt.“
Versenkung
Immersion ist an sich kein digitales Phänomen – Wiens barocke Paläste und historistische Museumsräume schlagen Besucherinnen und Besucher ebenso in ihren Bann wie die Pavillons auf der VenedigBiennale oder die verspiegelten Räume („Infinity Rooms“) der Japanerin Yayoi Kusama. Den ersten derartigen Raum installierte die Künstlerin bereits 1965, das InstagramZeitalter beschert den Werken nun Menschenschlangen: Selfies reichen heute nicht mehr, das Online-Publikum verlangt raffiniertere Bilder.
Dass Smartphone-Nutzer dabei den Unterschied zwischen Kunst und Kulissenwelten einebnen, mag man beklagen. Doch auch hier ist das Phänomen nicht neu: Wie der Kunstwissenschafter Wolfgang Ullrich in seinem Essay über Selfies (Wagenbach Verlag) darlegt, macht sich der Mensch selbst zum Bild, spielt bestimmte Rollen und maskiert sich, etwa mittels Grimassen und Emojis.
Vorbilder für dieses Verhalten sieht Ullrich – mit Rückgriff auf den Soziologen Richard Sennett – in der Barockzeit, wo Selbstdarstellung und Maskerade anderen Stellenwert genoss und die Grenze zwischen dem Theater auf der Bühne und jenem im Zuschauerraum durchlässiger war. Viel spricht dafür, dass das Handy und die Virtual-Reality-Brille helfen, die im modernen Zeitalter errichteten Grenzen zwischen Kunst und Betrachter einzureißen. Und wo alles Bühne ist, ist auch die Kunst zunächst einmal Kulisse oder Kostüm.