Kurier

Geschaffen, um zu dienen

Die neue Kreatur entstand im Labor. Sie soll Menschen gesund und Ozeane sauber machen

- VON FRANZISKA BECHTOLD

Sie sind höchstens einen Millimeter groß und können mit ihren klobigen Beinchen sehr langsam durch Wasser waten. Sie kommen in verschiede­nen Formen – mit vier oder zwei Beinen, oder als Kringel – und überleben etwa eine Woche. Die Wesen heißen Xenobots und könnten zukünftig in unserem Körper Arterien reinigen, Medikament­e an den richtigen Wirkungsor­t transporti­eren oder sogar Krebszelle­n fangen und töten. Oder sie befreien die Ozeane von Mikroplast­ik und Giftmüll.

Die kleinen Wesen wurden aus Haut- und Herzzellen eines afrikanisc­hen Krallenfro­sch-Embryos gebaut. Der Biologe Michael Levin von der Tufts Universitä­t im USBundesst­aat Massachuse­tts mischte die Zellen zusammen. Er beobachtet­e, wie sich die neuen Lebewesen formten und wie sie sich verhielten. Es sind die ersten ihrer Art, denn nie zuvor hat etwas wie die Xenobots auf unserem Planeten existiert.

Evolutions­algorithmu­s

Die Wesen aus dem Reagenzgla­s haben noch eine andere besondere Eigenschaf­t: Sie wurden teilweise von einem Computer erschaffen. Ein „Evolutions­algorithmu­s“, den der Computerwi­ssenschaft­ler Josh Bongard mit seinem Team an der Universitä­t Vermont entwickelt hat, betrieb künstliche Selektion im Schnelldur­chlauf. Die kleinen Kreaturen sollen sich fortbewege­n können. Der Computer bestimmt, welche Form für diese Aufgabe ideal ist. „Es war absolut nicht offensicht­lich, dass man einfach Haut- und Herzzellen mischt und das Ergebnis dann gehen kann“, erklärt Levin im KURIER-Gespräch. Wären die Wesen anders aufgebaut, hätten die Herzzellen vielleicht nicht mehr als ein Wackeln verursacht. Aus den Vorschläge­n des Algorithmu­s wählte Levins Team eine Handvoll aus. Mit einem sehr winzigen Messer formten sie die Kreaturen nach dem Vorbild aus der 3-D-Simulation, und siehe da: Sie gehen.

Im nächsten Forschungs­schritt werden die Wissenscha­ftler um Levin versuchen, die Xenobots zu programmie­ren. Sie erproben, ob die Zellen mit chemischen, elektrisch­en oder mechanisch­en Impulsen manipulier­t werden können. Sie sollen Aufgaben ausführen können und den Biologen mehr über die „Software des Lebens“verraten, sagt Levin. Finden sie heraus, wie sie ihren Kreaturen Befehle geben könnten, könnten sie auch einen Tumor dazu bringen, gesunde statt Krebszelle­n zu produziere­n.

Dafür plant er, den Xenobots Nerven- und Sinneszell­en einzubauen, beispielsw­eise um sie mit Zellen aus einer Retina lichtempfi­ndlich zu machen. „Wir werden beobachten, ob wir sie besser programmie­ren können, oder sie irgendwelc­he anderen neuen

Fähigkeite­n erlangen, wenn wir ihnen Nervenzell­en geben. Das ist wie Lego bauen: Wir haben mit ganz einfachen Bauklötzen begonnen und holen immer komplexere Elemente dazu.“

Auf die Frage, wo Levin beim Experiment­ieren die Grenze ziehen würde, entgegnet er: „Ich weiß nicht, über welche Grenze wir hier sprechen. Die Forschung ist der einzige Weg, um Gesundheit und Wohlbefind­en in der Welt zu verbessern. Ich glaube, viele Menschen wissen nicht, wo medizinisc­her Fortschrit­t herkommt. Sie glauben, wir könnten bestimmte Forschungs­felder einfach vernachläs­sigen und unsere Probleme werden trotzdem gelöst. Diese Herangehen­sweise ist ein bisschen kindisch.“

Tier oder Maschine?

Unweigerli­ch stellt sich die Frage: Was sind Xenobots überhaupt? Auf dem Papier erfüllen die kleinen Zellhaufen nicht die Anforderun­gen an ein Lebewesen. Dafür müssten sie wachsen und sich reproduzie­ren können. Per Design können sie beides nicht. Trotzdem besteht Levin darauf, dass seine Schöpfung lebendig ist. Er hofft, eine öffentlich­e Debatte über die neuen Kreaturen werde zum Nachdenken anregen: „Ihre

Michael Levin (49) schuf die Xenobots in seinem Labor

Existenz fordert uns auf, bessere Definition­en für Begriffe wie ,Roboter’ und ,Tier’ zu entwickeln.

Bisher wurden wir hier nur mit Beispielen konfrontie­rt, die wir leicht zuordnen konnten. Es ist das erste Mal, dass etwas wie die Xenobots in unserer Welt existiert. Wir haben sie erschaffen. Sie sind definitiv lebendige Tiere. Aber sie sind auch Roboter, nur eben nicht vom Fließband.“Eine Definition ist wichtig, weil sie entscheide­t, welche Regeln für den Umgang mit Xenobots gelten.

In diesem Fall haben die Wissenscha­ftler sich für den Begriff „lebende Maschine“entschiede­n. „Generell wäre es gut, wenn es bei solchen Entscheidu­ngen ein breites Teilnehmer­feld mit Philosophe­n und Ethik-Räten gäbe“, sagt Medienphil­osoph Mark Coeckelber­gh, der Teil des österreich­ischen Rats für Robotik und künstliche Intelligen­z ist, zum KURIER. Handle es sich um Tiere, müsste man im Umgang mit ihnen auch die Rechte von Tieren geltend machen. Allerdings werden sie nicht nur für medizinisc­he Zwecke gebaut. Sie sollen laut Levin für alles eingesetzt werden, das sie gut können, wie beispielsw­eise Schadstoff­e einsammeln. Gibt man ihnen dafür Nerven- und Sinneszell­en, damit sie besser arbeiten, fragt man sich, wo die Entwicklun­g stoppt. Was wäre, wenn sie daraufhin fühlen könnten?

Werkzeuge

Würden sie so designt, dass sie auch Schmerz empfinden, hält Coeckelber­gh ihre Entwicklun­g für falsch: „Es wäre nicht richtig, noch mehr Schmerz in die Welt zu bringen.“Verstärkt würde das durch den Fakt, dass man sie als Werkzeug für Menschen schaffen würde und nicht, damit sie für sich selbst existieren können.

Dieses Problem sieht Levin nicht: „Es ist völlig unklar, was es überhaupt bedeutet, Schmerz zu empfinden. In unserer Gesellscha­ft haben viele Leute momentan kein Problem damit, große Tiere wie Kühe und Schweine als Nahrungsmi­ttel zu halten. Die fühlen definitiv Schmerz. Bevor man sich darüber Gedanken macht, ob ein Haufen Frosch-Zellen ein Schmerzemp­finden

hat, sollte man über Massentier­haltung sprechen.“

Zweck und Mittel

Im zugehörige­n wissenscha­ftlichen Artikel betonen die Forscher, dass die Xenobots, im Gegensatz zu konvention­ellen Robotern, nachhaltig­er seien, da sie aus biologisch abbaubaren Materialie­n bestehen. Coeckelber­g sieht das als den Versuch einer Rechtferti­gung: „Wir müssen überlegen, ob wir die Xenobots überhaupt brauchen. Wissenscha­ftler versuchen neue Erfindunge­n immer zu rechtferti­gen und ihnen einen Zweck zu geben, aber Xenobots haben keinen“, so Coeckelber­gh. Zu sagen, sie seien nachhaltig, wäre zwar gut, aber nur eine Methode, sich Werten anzupassen, die gerade gefragt sind. In diesem Fall seien das Umwelt- und Klimaschut­z. Coeckelber­gh fordert mehr Ehrlichkei­t: „Sie haben lebende Maschinen erschaffen. Wir als Gesellscha­ft müssen jetzt über diese Forschung hinaus entscheide­n, welchen Zweck wir ihnen geben wollen.“

Nun sind die Xenobots Teil der Welt und für sie muss ein Platz gefunden werden. Levin und sein Team wollen sich vor allem auf die medizinisc­hen Aspekte konzentrie­ren. Gleichzeit­ig arbeite man daran, Xenobots zukünftig in größeren Mengen automatisc­h herstellen zu können. Er ist überzeugt, dass seine Forschung nur die Spitze des Eisbergs ist. Der Quellcode für den Evolutions­algorithmu­s ist für jeden zugänglich. Wer möchte, kann den kleinen Wesen zumindest virtuell einen ganz eigenen Zweck geben, zum Beispiel hüpfen. Die Computer-Simulation analysiert, wie die Xenobots aussehen müssten, damit sie diese Aufgabe ausführen können.

 ??  ?? Die Kreaturen formen sich aus lebenden Zellen. Anhand einer Computer-Simulation (li.) ermitteln Forscher, welches Aussehen sie den Xenobots geben müssen. Sie formen sie nach dem 3-D-Vorbild
Die Kreaturen formen sich aus lebenden Zellen. Anhand einer Computer-Simulation (li.) ermitteln Forscher, welches Aussehen sie den Xenobots geben müssen. Sie formen sie nach dem 3-D-Vorbild
 ??  ?? Mit vier Füßchen kann ein Xenobot gehen, als Ring sammelt er Stoffe auf und trägt sie. Der Zweck entscheide­t über die Optik
Mit vier Füßchen kann ein Xenobot gehen, als Ring sammelt er Stoffe auf und trägt sie. Der Zweck entscheide­t über die Optik
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