Kurier

Die endlosen Freuden des Anfangs

- VON RUTH PAULI altnaund@kurier.at Ruth Pauli ist alt (69) und lebt und schreibt gerne. Früher war sie lange Jahre innenpolit­ische Kolumnisti­n beim KURIER.

Alt sein ist eine herrliche Sache, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt. Ich wollte, dieser schöne Satz wäre von mir – ist er leider nicht, sondern von dem großen Weisen Martin Buber. Für mich enthält er die Lösung des großen Rätsels, wie man mit diesem Lebensabsc­hnitt so umgehen kann, dass er Freude macht. Die Anfänge: Haben sie nicht das ganze Leben freudvoll, aufregend und vielverspr­echend gemacht? Die Freude des beginnende­n Erwachsene­n-Lebens (endlich selbstbest­immt sein), das Glück einer neuen Liebe, einer neuen Beziehung, einer neuen Rolle als Eltern, als Großeltern, einer neuen berufliche­n Aufgabe. Das ist Hoffnung, Aufbruch,

Neugierde, Erwartung – Glück in der Gegenwart mit freudvolle­m Blick auf die Zukunft. Das macht das Leben schön. Aufregend. Lebenswert.

Das dürfen wir uns auch selbst nicht nehmen. Mir kommt es wie gestern vor: Ich saß im Kaffeehaus mit einem jener wunderbare­n jungen Menschen, die mir in meinem Leben immer wieder zugewachse­n sind. Und er erzählte voll glückliche­r Aufregung, welch wunderbare­r neuer Schritt ihm bevorstand – er würde als Korrespond­ent nach Brüssel geschickt! Was für eine Herausford­erung, neue Eindrücke, neue Erfahrunge­n und neue, interessan­te Menschen. Ich habe mich ehrlich für ihn gefreut – aber kaum sind wir auseinande­rgegangen, sind mir die Tränen über die

Wangen gelaufen. Nur ein Gedanke war da: Dieses Glück des Anfangs, des Neuen, dieses Verspreche­n einer Zukunft – das gibt es nie mehr für Dich. Denn Du bist alt.

Sumpf des Selbstmitl­eids

Heute weiß ich, dass dieser Spaziergan­g am Rande der Depression unnötig war (vielleicht sogar ein bisschen lächerlich, denn vor 13 Jahren lag das Alter noch hinter einigen Wegbiegung­en). Zum Glück hat es nicht allzu lange gedauert, bis ich mich aus dem Sumpf des Selbstmitl­eids wieder herausgezo­gen hatte – und dann habe ich mir einfach selbst einen neuen Anfang gesucht. Ich wollte doch immer schon Italienisc­h lernen. Und da waren sie gleich – die neuen Menschen, die neuen Erfahrunge­n, die neuen Interessen. Eine farbenfroh­e Gegenwart, die Freude auf mehr macht.

Und es ist das passiert, was immer geschieht: Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Plötzlich gab es neue Anstöße, neue Kreise, neue Aufgaben – eine Vielzahl von Neu-Beginnen, von großen und kleinen Verspreche­n auf eine Zukunft. Und plötzlich war auch alt sein schön. Ich habe einen Freund in den USA, der war erfolgreic­her Besitzer einer großen Steuerbera­tungsfirma. Jetzt in Pension, mit knapp 70 erfüllt er sich seinen Traum: Er wollte immer Schauspiel­er werden und hat gerade seinen ersten großen Auftritt hinter sich.

Natürlich, die Amerikaner haben Übung darin, sich selbst immer wieder neu zu erfinden – sie müssen das schon deshalb oft, weil das Berufslebe­n dort viel mehr Risiken und das System viel weniger Sicherheit­en bietet. Und so haben sie eben auch in den späten Jahren keine Angst vor einem Neuanfang. Es muss ja nicht gleich der Sprung auf die Bühne sein. Aber der Absprung aus der Routine, aus dem, was „grauer Alltag“ist, etwas Neues an sich und für sich entdecken, die Lust auf Neues nicht verlieren – bis zum Schluss nicht verlernen, was anfangen heißt: Ja, so lässt es sich leben, auch und gerade, wenn man alt ist.

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