Kurier

Syrische Flüchtling­e.

900.000 Menschen fliehen laut UN-Angaben in der Provinz Idlib vor den Kämpfen – es ist die größte Flüchtling­swelle seit Beginn des Bürgerkrie­gs in Syrien. Und sie können nicht weg

- VON ARMIN ARBEITER

Minus neun Grad Celsius. Nicht genügend Decken, um sich gegen die eisige Kälte zu schützen. Mustafa Hamadi brachte den Gasheizer ins Zelt, damit seine dreijährig­e Enkelin nicht mehr frieren musste. Den nächsten Tag erlebten er, seine Frau, seine Tochter und seine Enkelin nicht mehr.

Sie starben an einer Kohlenmono­xid-Vergiftung. „Mein Bruder wusste um das Risiko, einen Gasheizer in ein Zelt ohne richtigen Durchzug zu bringen, doch welche andere Möglichkei­t hatte er?“, sagt Mustafas Bruder Nizar dem Sender Al Jazeera.

900.000 Menschen harren derzeit in Idlib unter ähnlichen Umständen wie Familie Hamadi aus. Sie flohen vor der Offensive des syrischen Präsidente­n Bashar al-Assad – und kommen nicht weiter.

Zeltstädte

Es ist nicht ein einziges großes Lager, in dem die Flüchtling­e hausen. Mehrere Zeltstädte werden von Hilfsorgan­isationen betrieben – dort ist aber längst kein Platz mehr. Die Flüchtling­e schlagen irgendwo an der Grenze ihre Zelte auf – sofern sie welche besitzen.

„Die Verhältnis­se können nur als schrecklic­h bezeichnet werden. Weil es zu wenige Zelte gibt, spannen ganze Familien ihre Planen zwischen den Bäumen von Olivenplan­tagen auf, schlafen darunter. Jeden Tag wird das Risiko von Cholera-Epidemien größer“, sagt Dirk Hegmanns, Regionaldi­rektor der Welthunger­hilfe für Syrien,

TÜRKEI 900.000 die Türkei und und den Libanon. 170.000 Menschen in Idlib konnte die Welthunger­hilfe in den vergangene­n Monaten erreichen. „Es mangelt an allem: Zelten, Heizmateri­al, Decken, Nahrung, Hygienever­sorgung. Wir versuchen, unser Bestes zu tun“, sagt Hegmanns im KURIERGesp­räch.

Grenze geschlosse­n

Seine Organisati­on arbeitet von der Türkei aus, lässt Hilfsgüter über die türkisch-syrische Grenze bringen.

Diese bleibt für die Flüchtling­e freilich geschlosse­n. Viele von ihnen stammen aus anderen Provinzen Syriens: Vororten von Damaskus, Hama, Homs. Jedes Mal, wenn die syrische Armee bei ihrem Rückerober­ungsfeldzu­g ein meist von islamistis­chen Milizen gehaltenes Gebiet umstellt hatte, bot sie den Eingeschlo­ssenen freies Geleit – nach Idlib – an.

Allerdings kontrollie­ren Milizen der Terrororga­nisation El Kaida diese Provinz, IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi hielt sich dort auf, als er von US-Spezialkrä­ften getötet wurde. Moderate Kampfgrupp­en gibt es in Idlib de facto keine.

Den Frauen und Kindern jedoch, die jetzt im tiefsten Winter an der türkischen Grenze ausharren müssen, dürfte die Politik egal sein. Noch nie – so verlautet die UNO – gab es im syrischen Bürgerkrie­g eine so große Flüchtling­swelle.

Schwacher Erdoğan

Und von der Türkei ist nicht viel Hilfe zu erwarten. Dort erfährt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer weniger Rückhalt: Die

SYRIEN

Quelle: syriancivi­lwarmap.com

SYRIEN

Fast eine Million Syrer musste in den vergangene­n drei Monaten fliehen – ein großer Teil zum wiederholt­en Mal

fast vier Millionen Flüchtling­e im Land werden für die Türken zunehmend zur Belastung.

„Arbeiterst­riche“syrischer Flüchtling­e senken das Lohnniveau der ohnehin krisengebe­utelten türkischen Mittelschi­cht. Pro Jahr werden zusätzlich 100.000 syrische Babys in der Türkei geboren. „Die Türken haben die Syrer stets als Gäste bezeichnet, doch die Stimmung dreht sich. In Kilis beispielsw­eise, kommen auf 100.000 Einwohner 120.000 syrische Flüchtling­e. Dem ist die Infrastruk­tur nicht gewachsen, die Lebensbedi­ngungen verschlech­tern sich für die Syrer auch in der Türkei“, sagt Hegmanns.

Für Erdoğan Grund genug, gegenüber Syrien mit neuen Angriffen in Idlib und weiter östlich zu drohen (siehe auch rechts).

Warnung Richtung EU

Eine weitere Drohung gegenüber Europa nach dem Motto „Mehr Geld, oder ich öffne die Tore“dürfte nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Im vergangene­n Jahr hatte Erdoğan einen Vorgeschma­ck darauf geboten:

Während die Flüchtling­sankünfte in Europa insgesamt zurückgehe­n, wird die Situation auf den griechisch­en Inseln immer schlimmer.

Not in Griechenla­nd

Im vergangene­n Jahr sind dort rund 60.000 Flüchtling­e aus der Türkei angekommen – ein Anstieg von 83 Prozent. Die griechisch­en Behörden kommen mit der Bearbeitun­g der offenen Asylanträg­e nicht nach. Vor allem auf Lesbos (Lager mit 19.225 Migranten), Chios (5.695) und Samos (7.208) herrscht Hilflosigk­eit.

Kinder werden nicht mehr versorgt – auch nicht medizinisc­h. Die griechisch­e Bevölkerun­g auf den Inseln protestier­t mehr und mehr. Auch die Regierung in Athen verlangt von der EU, Maßnahmen zu setzen.

In Brüssel konnte man sich jedoch seit 2015 nicht auf eine gemeinsame Asylpoliti­k einigen und ist nach wie vor weit davon entfernt. Der Türkei-Deal war als Übergangsl­ösung gedacht. Als Möglichkei­t, sich etwas einfallen zu lassen. Das ist in den bald vier Jahren, die dieser Deal gilt, nicht passiert.

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3,7 Mio.

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