Lesen öffnet die Tür zur Welt
Das Rote Kreuz begleitet junge Menschen auf ihrem Bildungsweg. Ein runder Tisch zum Thema Lesen, Konzentration und Neue Medien
Lesen und Vorlesen haben in Zeiten, in denen Familien zu Hause bleiben müssen, Hochkonjunktur. Hoffentlich. Doch wie motiviert man Kinder, ein Buch in die Hand zu nehmen? Lesen Jugendliche heute noch? Am heutigen Vorlesetag diskutieren darüber auf Einladung des Jugendrotkreuzes Ulrike Hanka, Pädagogin und Landesgeschäftsführerin ÖJRK NÖ, Philipp Riederle, Autor und Vertreter der digitalen Generation, Autorin Cornelia Travnicek sowie Gabriele Liebentritt, Pflichtschullehrerin und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule NÖ u.a. zum Thema Lese-Rechtschreibschwäche.
KURIER: Frau Hanka, warum ist dem Jugendrotkreuz das Thema Vorlesen so wichtig? Ulrike Hanka: Bildung und Lesen sind der Schlüssel zur Welt. Ich kann an der Gesellschaft nur teilhaben, wenn ich mir Inhalte erschließen kann – Mails, Zeitungen oder Bücher lese. Ich muss die Botschaft darin entschlüsseln und sinnerfassend annehmen können. Das Jugendrotkreuz hat eine lange Tradition darin, Pädagogen und Schüler zu unterstützen: Wir stellen Leseangebote zur Verfügung, die hinsichtlich der Lesedidaktik und der Textauswahl dem entsprechen, was Kinder nach Vorgabe des Lehrplans lernen und können sollen. Dabei wollen wir wichtige Werte vermitteln, wie Demokratiefähigkeit, Humanität und Solidarität, und zum Lesen und Vorlesen animieren.
Herr Riederle, hat sich die Art zu lesen geändert? Philipp Riederle: Für unsere Generation ist es selbstverständlich, dass wir überall und jederzeit Zugang zu jeder Information haben. Wir lesen mehr als jede Generation zuvor – WhatsApp, Mails etc.
Frau Tavnicek, manche Ihrer Bücher sind mittlerweile Schullektüre an der Oberstufe. Haben Sie das Gefühl, dass junge Menschen sich noch in Bücher versenken und diese in ihrer Komplexität verstehen können? Cornelia Travnicek: Ich mache mir als Schriftstellerin in der Belletristik eher keine Gedanken, ob ein Leser mein Buch von der Komplexität her versteht. Literatur ist eine Kunstform, da geht es ja nicht um Gebrauchstexte. Mit 16 darf man wählen – ich glaube, da man sollte man auch fähig sein, ein literarisches Buch zu erfassen. Und mein Eindruck bei Lesungen in den Schulen ist, dass die Jugendlichen das durchaus noch können.
Warum ist es so wichtig, Kindern vorzulesen? Gabriele Liebentritt: Vorlesen macht Freude, fördert die Konzentration und den Wortschatz. Sprachkompetenz ist die Basis fürs Lesenlernen. Sprache und Kommunikation sind immer mit Emotion verbunden – über das Vorlesen habe ich eine hohe emotionale Bindung. Ohne diese werde ich keine Sprache lernen. Das heißt: Vor Kindergartenund Schuleintritt ist viel Zeit vergangen, in der sich wesentliche Zeitfenster für die Sprachentwicklung schließen. Deshalb müssen wir bereits im vorschulischen Bereich in den Familien ansetzen. Riederle: Das Vorlesen nimmt leider in allen Familien ab – in allen Schichten. Schauen Sie sich in Restaurants um: Kinder werden vor Handys geparkt, weil es Eltern zu anstrengend ist, sich mit ihnen zu unterhalten.
Kann man Neue Medien nutzen, um Kinder an das Lesen heranzuführen?
Riederle: Ja, dort, wo Kinder nicht lesen können. Es gibt Apps, die vorlesen und mit dem Cursor zeigen, wo man steht. Grundsätzlich gilt: Um alle Chancen der Neuen Medien zu nutzen, ist das Lesen unheimlich wichtig. Denn ohne dass ich lesen kann, kann ich all das, was mir die digitale Welt eröffnet, nicht nutzen. Weil so viel Kommunikation über Text stattfindet, ist der, der nicht lesen kann, noch viel weniger Teil einer Gesellschaft. Viele Dienstleistungen sind heute Selfservice – Online-Banking ist heute Standard. Da ist Lesen der Schlüssel, um in der immer komplexer und digitaler
Josef Schmoll Präsident Rotes Kreuz NÖ
werdenden Welt mithalten mitzuhalten zu können. Liebentritt: Das Internet bringt eine andere Form des Lesens mit sich. Bücher werden linear von links nach rechts gelesen, Zeile für Zeile. Das digitale Lesen ist vergleichbar mit einem Spinnennetz. Es wird von oben nach unten, quer, selektiv und sprunghaft gelesen. Beides hat seine Berechtigung.
Wie schaffen Kinder den Sprung von einfachen Texten hin zu komplexen Büchern und Geschichten? Travnicek: Das ist ein Prozess, der früh beginnt: Man beginnt nicht mit einem Gebrauchstext und hangelt sich zu Geschichten vor. Es ist andersherum: Geschichten zu erzählen, ist zutiefst menschlich. Alle Erfahrungen, alles Wissen wurde in Geschichten transportiert – weil es durch Emotionen zugänglicher wird. Kinder haben eine Neugier an Geschichten: Ein Film, ein Buch, eine Erzählung der Oma. Wenn Kinder sehen, dass Erwachsene lesen und vorlesen, bleibt ihr Interesse an Geschichten aufrecht. Irgendwann wird ihnen klar, dass die Geschichte in den Zeichen versteckt ist. Der Schlüssel zu vielen Geschichten ist es, diese Zeichen zu verstehen. Wenn man dieses Wissen früh platziert, werden viele von alleine lesen lernen wollen. Sie verstehen, dass es Zugang zur Gesellschaft, zu Wissen, zur Unterhaltung ist.
Manchen ist das Lesen zu anstrengend, auch weil ihnen der Wortschatz fehlt. Wie begegnet man dem? Liebentritt: Mit einem differenzierten Leseunterricht und einem vielfältigen Leseangebot. Zu Beginn der 1. Klasse gibt es Schüler, die bereits lesen können und ande
„Ziel unserer Lese- und Lernprogramme ist es, Interesse an Bildung zu wecken, Kinder zum Lernen hinzuführen und ihnen so den Einstieg ins Bildungssystem zu ermöglichen. Lesen ist dabei eine wichtige Grundkompetenz – daran Spaß zu haben und sinnerfassend zu lesen, ist essenziell. Mit unseren Schülermagazinen wollen wir genau das erreichen!“