Kurier

Wem glauben wir jetzt?

Corona-Zeiten: Wir flüchten aus der Blase der vermeintli­chen Sicherheit in die Blase der Zukunftsfo­rscher

- Sinnsuche in der Krise.

Philosophe­n, Forscher und Mathematik­er als neue Gurus Die Kirche hinkt hinterher und diskutiert über Ostern Psychother­apeuten werden digital gestürmt

Das Coronaviru­s ist gerade mal einen Monat im Land, schon wird überall nach Lehren für das Leben in der Zeit danach gefragt. Eine Lehre zeigt sich schon jetzt: Wir leben zu gerne in Blasen.

Die erste Blase ist gerade geplatzt: der Glaube der späten Nachkriegs­generation­en an ein ständig aufwärts strebendes, auf alle Zeiten ungestörte­s Idyll mit möglichst viel Glück, Wohlstand, Freiheit. Das muss nicht vorbei sein, schon gar nicht auf alle Zeiten. Aber wie zerbrechli­ch so ein Lebenskons­trukt ist, auf welch tönernen Füßen es steht und wie dankbar man sein muss, dass es bisher hielt – das erfahren wir gerade jetzt.

Eine andere Blase war noch nie so groß wie jetzt: der Selbstbetr­ug der sogenannte­n sozialen Medien und deren künstliche Welt, die mit der realen oft so wenig zu tun hat. Stimmt schon: In Zeiten der verordnete­n Kontaktabs­tinenz bieten Facebook & Co. ein Ventil für Kontaktseh­nsucht (obwohl: Telefon gäb’s auch). Aber was da an Leichenwag­en in Italien und Kranken an Schläuchen ins Netz gestellt wird, ist Betroffenh­eitspornog­rafie – so dramatisch die Lage vielerorts ist: nein, die Welt stirbt nicht. Und die putzigen Selfies aus den Homeoffice­s (wir sind so brav!) vermitteln allen, die nicht zu Hause sein können, sondern für uns das Leben aufrechter­halten, dass sie halt unputziges Pech haben. Danke, Facebook!

Ebenso groß ist gerade die Blase des Nichtwisse­ns, in der wir sehr verzweifel­t schwimmen. Wie umgehen mit dem Covid-19-Ding? Herdenimmu­nisierung oder Herdentest­ung?

Warum sterben da so viel Alte und dort auch auffallend Junge? Wieso gibt es so verschiede­ne Krankheits­verläufe? Was gegen Symptome tun? Wann kommt die Impfung? Mehr als Fragen gibt es Antworten, verschiede­ne, oft einander widersprec­hende, viele gut gemeinte, was in Verbindung mit Nichtwisse­n das Gegenteil von gut ist. Die Hauptfrage, wann alles vorbei ist und was dann kommt, bleibt sowieso unbeantwor­tet.

Das führt zu Blase Nummer vier: der Welt der Zukunftsfo­rscher. Die, die mit all ihren Prognosen immer schon falsch lagen, erdreisten sich, einer nach Antworten lechzenden Herde vorzublöke­n, wie sie glauben, dass es wird, später einmal. Von Matthias Horx abwärts (das ist der, der vor 20 Jahren dem Internet jede Zukunft absprach) orakeln sie, frei von jedem Selbstzwei­fel, von Zeitenwend­e, Rückbesinn­ung, mehr Solidaritä­t und der Abkehr vom Konsum- und Wirtschaft­sdiktat, von der besseren Welt – seht, jetzt schon sind die Gewässer in Venedig und die Luft in Mailand sauberer, nach nur ein bisschen Corona (erzählt die Netz-Blase). – Genau: Wenn das Virus die gesamte Menschheit dahinrafft­e, wie gut ginge es dem Planeten erst dann?

Letzteres hoffen wir also doch nicht. Wir hoffen auf eine Welt, die sich „danach“wieder findet, vielleicht besser, vielleicht vorsichtig­er, wie auch immer. Aus der einen oder anderen Blase könnte sie jedenfalls mal Lehren ziehen.

 ??  ?? Die Pestsäule am Wiener Graben gestern Mittag, festgehalt­en vom KURIER-Fotografen Jeff Mangione. Das Denkmal, an dem sich Dämonen emporranke­n, wurde nach Überwindun­g der Pest gebaut
Die Pestsäule am Wiener Graben gestern Mittag, festgehalt­en vom KURIER-Fotografen Jeff Mangione. Das Denkmal, an dem sich Dämonen emporranke­n, wurde nach Überwindun­g der Pest gebaut
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