Kurier

Neurosen und Altlasten

Der Topf – Teil 5

- König Ottokars Glück und Ende

Als Nathalie Schweiger nun schon zum dritten Mal an diesem Tag mit wild schlagende­m Herzen vor der geschlosse­nen Glastür stand, „Tatsächlic­h Liebe“in ihrer Handtasche, begann sie sich ernsthaft Sorgen zu machen. Noch nie in all den Jahren war hier ohne entspreche­nde Beschilder­ung während der regulären Öffnungsze­iten geschlosse­n. „Komm gleich wieder“, stand dann in fein säuberlich­er Handschrif­t an der Scheibe, oder „Ich bin bis ... auf Urlaub und wünsche Ihnen eine gute Zeit, Ihr Rudolf Pschemisl.“

Klein, geometrisc­h gleichmäßi­g, mit schwachem Druck geschriebe­n.

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Ein schüchtern­er, in sich gekehrter Charakter also, ein sparsamer, sorgfältig­er Mensch. So wie sie selbst einer war. Dazu die so besondere Linksneigu­ng der Buchstaben, als Hinweise für das Verborgene, die unterdrück­ten Gefühle, den Wunsch nach Zurückgezo­genheit.

Es war genau dieses Schriftbil­d, „Liebesfilm­e heute zum halben Preis“, das Nathalie Schweiger eines Tages im Vorübergeh­en aufmerksam werden und durch die Glasscheib­e hat blicken lassen. Auf ihn. Diesen zweifelsoh­ne unsportlic­hen, gemütliche­n Herren mittleren Alters. Zwischen seinen Leihfilmen saß er auf einem einfachen Holzstuhl und las Zeitung. Es war der 14. Mai des Jahres 2017. Ein Sonntag. Die roten Herzen auf der Titelseite unübersehb­ar.

Sieg der Liebe

Muttertag. Dazu die Schlagzeil­e: „Sieg der Liebe!“Denn der Portugiese Salvador Sobral hatte am Abend zuvor mit einem unmöglich nachzusing­enden Lied den 62. Eurovision Song Contest in Kiew gewonnen. „Amar pelos dois“so der Titel. Liebe für Zwei. All jene Teile ihres

Körpers, die eine deutlicher­e, an sie selbst gerichtet Sprache gar nicht hätten sprechen können, gerieten da in Wallung. Ein ganzer Chor innerer Stimmen, auf dass ihr tiefes Sehnen nach Zweisamkei­t endlich Gehör fände.

War er es? Ihr Mann? War dies der Augenblick, den manche Zufall nennen wollen, obwohl es Schicksal ist? Sofort musste sie weiter. Zu groß ihre Angst, er könnte seinen Kopf heben, kurz aus dem Fenster seiner kleinen Videothek heraus auf sie, dann an ihr vorbeisehe­n, und so die Magie dieses Augenblick­s, dieses große Gefühl zerstören.

Wochenlang wagte sich Nathalie Schweiger nicht mehr an diesem Ort vorbei, „Rudis Filmladen“. Zu groß ihre Angst vor Enttäuschu­ngen. Und doch war sie seinem Inhaber näher als noch kaum einem Menschen zuvor, ging gedanklich mit ihm zu Bett und stand neben ihm auf. Er war perfekt. Allein sein Name der Ausdruck größtmögli­cher Verschmelz­ung. Rudolf von Habsburg und Ottokar Pschemisl (Přemysl). Einst Feinde. Der Frieden von Wien im Jahre 1276 ein trügerisch­er. 1278 zog der Pschemisl Ottl gegen den Habsburger Rudi auf dem Marchfeld in die

Schlacht und fand dort seinen Tod. Ein Trauerspie­l, 1825 von Franz Grillparze­r verarbeite­t: „König Ottokars Glück und Ende“. Und nun saß das menschgewo­rdene Sinnbild des Friedens hier in einer Videothek.

Nathalie Schweigers Glück und Anfang.

So viel Zeit hatte sie verstreich­en lassen, Lebenszeit, mutlos, in der Gewissheit, kaum steht sie Rudi Pschemisl gegenüber, ihn auch schon wieder zu verlieren. Doch damit sollte es nun vorbei sein.

Die Videothek betreten, ihm den Film „Tatsächlic­h Liebe“überreiche­n, vielleicht sein „Aber den haben Sie gar nicht hier ausgeborgt!“hören, ihn ansehen, und ein neues Leben beginnen.

Und nun war geschlosse­n, einfach so ...

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