Der Herr der Begegnungszonen
Verkehr. Gerhard Nestler erobert mit einem umstrittenen Verkehrskonzept zunehmend die Stadt. Ein Porträt
Der Lenker des graublauen Kastenwagens hupt. Kurz und schrill. Ein Mann in einem braunen Mantel steht vor ihm – mitten auf der Fahrbahn. Ein paar Fußgänger schauen ihn neugierig bis leicht irritiert an, die Radfahrer weichen ihm aus. Nur der Fahrer des Kastenwagens traut sich nicht vorbei. Er wird ungeduldig.
Dabei ist der Mann im Mantel streng genommen im Recht: Er darf in diesem Bereich der Straße die gesamte Fahrbahn nutzen. Und das ist noch dazu sein eigenes Werk.
Der Mann im braunen Mantel heißt Gerhard Nestler. Er steht auf der Mariahilfer Straße, zu einer Zeit, als das Coronavirus das geschäftige Treiben dort noch nicht lahmgelegt hat. Vor sieben Jahren wurde die Einkaufsmeile in eine Begegnungszone umgebaut – und zwar nach den Plänen von Nestler.
Nestler ist Straßenplaner im Zivilingenieurbüro FCP und so etwas wie der Herr der Begegnungszonen dieser Stadt. Nach der Mariahilfer Straße plante der 66-Jährige weitere prominente Straßen und weniger bekannte Gassen um: die Herrengasse, die Rotenturmstraße oder die Führichgasse und die Maysedergasse im 1. Bezirk.
In seiner Funktion hat Nestler in die (oftmals umstrittenen) Projekte Einblick wie kaum ein anderer. Und er ist einer der versiertesten Beobachter eines Modells der Verkehrsorganisation, das die Stadtpolitik nach der Corona-Krise wieder prägen wird. Die Debatten um Begegnungszonen in der Gumpendorfer Straße und in der Landstraßer Hauptstraße sind Vorboten.
Herausforderung Stadt
Neben dem Streit um sie haben die Zonen eines gemeinsam, sagt Nestler: Wird eine fertig, sei die erste Reaktion immer: „Wow, das ist jetzt breit.“Dabei befänden sich die Häuser ja am gleichen Platz – die Straßen wirken nach dem Umbau lediglich geräumiger. So auch die Mariahilfer Straße: „Die durchgängige Pflasterung schafft Fläche. Und die Leute nehmen sie gut an.“
Tatsächlich: Auf der Straße ist viel los. Zwischen Rad- und Scooterfahrern spazieren Passanten, manche betrachten die Waren in den Schaufenstern. Nestler hingegen hat den Blick auf den Boden gerichtet – wie immer, wenn er durch eine Begegnungszone geht. Ihn interessiert die Anordnung der Fugen und das Verlegemuster der Platten, das sich daraus ergibt: „Das ist eines der wesentlichen Gestaltungselemente.“Scheinbare Banalitäten entscheiden also, ob eine Begegnungszone optisch ansprechend ist.
Zu Beginn seiner Karriere waren Nestler Fugen noch egal. Nach der HTL begann er in einem Zivilingenieurbüro zu arbeiten. Er konzipierte damals Überlandstraßen – also ziemlich das Gegenteil von Begegnungszonen. Dann zog es ihn in die Stadt: „Dort ist es für einen Straßenplaner spannender.“
Wie spannend, das lehrte ihn die Mariahilfer Straße: „Der Vorstoß war mutig von Maria Vassilakou – auch wenn der
Start etwas schwierig war. Vor der Befragung habe ich ordentlich geschwitzt.“Die frühere grüne Vizebürgermeisterin und der Straßenplaner hatten Glück: Letztlich votierte eine knappe Mehrheit für den Umbau.
Daran hatte auch Nestler seinen Anteil: Zu seinen Aufgaben gehört es auch, seine Entwürfe zu erklären. Einen Teil seiner Arbeitszeit verbringt er bei Informationsabenden für Anrainer. Wer solche Veranstaltungen schon einmal besucht hat, weiß: Sie sind mitunter langatmig. Aber sie erfüllen einen wichtigen Zweck: „Man muss die unterschiedlichen Anrainer ins Boot holen“, sagt Nestler. Die haben seiner Erfahrung nach zwei Wünsche: „Mehr Grün und mehr Wasser. Und früher ging es auch stark um den Erhalt der Parkplätze.“
Um dem Rechnung zu tragen, muss Nestler manchmal zur Wunschfee mutieren: Wegen der Leitungen im Untergrund hätte in der Rotenturmstraße eigentlich kein einziger Baum gepflanzt werden können. Nestler, der Architekt und der Magistrat zauberten eine Lösung: spezielle Schutzrohre.
Evolution schreitet voran
Gleichzeitig ist Nestler Projektionsfläche für all jene, die mit Begegnungszonen nichts anfangen können. Verkehrsberuhigung als Umsatzkiller – dieses Lamento war lange Zeit allen voran von der Wirtschaftskammer zu hören. Mittlerweile vertritt sie die Auffassung, dass sich Flaniermeilen rentieren.
Verändert haben sich auch die Begegnungszonen selbst. Gingen die ersten Begegnungszonen kaum über eine niveaugleiche Fläche mit ein paar Bankerln und Pflanztrögen hinaus, kommt heute kaum eine ohne Nebelduschen, Wasserspiele und aufwendige Begrünung aus. „Jahresringe in der Planung“nennt Nestler das. Aktuelles Beispiel: die Neubaugasse – übrigens ebenfalls von Nestler geplant.
In der benachbarten Zollergasse soll die Evolution weiter voranschreiten: In der dortigen künftigen Begegnungszone sollen die Bäume nicht am Rand, sondern in der Mitte angeordnet werden. Das zeigt: Was „Begegnungszone“bedeutet, ist noch nicht abschließend definiert.
Für Nestler sind Begegnungszonen jedenfalls die Zukunft: „Die Kfz-Zulassungszahlen sinken, darauf müssen wir reagieren. Der Straßenraum ist ein Kompromissraum“. Dass der Ausgleich zwischen den Verkehrsteilnehmern in Begegnungszonen funktioniert, zeigt sich für Nestler am Hupen des Kastenwagens: „Das ist Dialog und um den geht es.“
Begegnungszonen