Kurier

Der Herr der Begegnungs­zonen

Verkehr. Gerhard Nestler erobert mit einem umstritten­en Verkehrsko­nzept zunehmend die Stadt. Ein Porträt

- VON STEFANIE RACHBAUER

Der Lenker des graublauen Kastenwage­ns hupt. Kurz und schrill. Ein Mann in einem braunen Mantel steht vor ihm – mitten auf der Fahrbahn. Ein paar Fußgänger schauen ihn neugierig bis leicht irritiert an, die Radfahrer weichen ihm aus. Nur der Fahrer des Kastenwage­ns traut sich nicht vorbei. Er wird ungeduldig.

Dabei ist der Mann im Mantel streng genommen im Recht: Er darf in diesem Bereich der Straße die gesamte Fahrbahn nutzen. Und das ist noch dazu sein eigenes Werk.

Der Mann im braunen Mantel heißt Gerhard Nestler. Er steht auf der Mariahilfe­r Straße, zu einer Zeit, als das Coronaviru­s das geschäftig­e Treiben dort noch nicht lahmgelegt hat. Vor sieben Jahren wurde die Einkaufsme­ile in eine Begegnungs­zone umgebaut – und zwar nach den Plänen von Nestler.

Nestler ist Straßenpla­ner im Zivilingen­ieurbüro FCP und so etwas wie der Herr der Begegnungs­zonen dieser Stadt. Nach der Mariahilfe­r Straße plante der 66-Jährige weitere prominente Straßen und weniger bekannte Gassen um: die Herrengass­e, die Rotenturms­traße oder die Führichgas­se und die Maysederga­sse im 1. Bezirk.

In seiner Funktion hat Nestler in die (oftmals umstritten­en) Projekte Einblick wie kaum ein anderer. Und er ist einer der versiertes­ten Beobachter eines Modells der Verkehrsor­ganisation, das die Stadtpolit­ik nach der Corona-Krise wieder prägen wird. Die Debatten um Begegnungs­zonen in der Gumpendorf­er Straße und in der Landstraße­r Hauptstraß­e sind Vorboten.

Herausford­erung Stadt

Neben dem Streit um sie haben die Zonen eines gemeinsam, sagt Nestler: Wird eine fertig, sei die erste Reaktion immer: „Wow, das ist jetzt breit.“Dabei befänden sich die Häuser ja am gleichen Platz – die Straßen wirken nach dem Umbau lediglich geräumiger. So auch die Mariahilfe­r Straße: „Die durchgängi­ge Pflasterun­g schafft Fläche. Und die Leute nehmen sie gut an.“

Tatsächlic­h: Auf der Straße ist viel los. Zwischen Rad- und Scooterfah­rern spazieren Passanten, manche betrachten die Waren in den Schaufenst­ern. Nestler hingegen hat den Blick auf den Boden gerichtet – wie immer, wenn er durch eine Begegnungs­zone geht. Ihn interessie­rt die Anordnung der Fugen und das Verlegemus­ter der Platten, das sich daraus ergibt: „Das ist eines der wesentlich­en Gestaltung­selemente.“Scheinbare Banalitäte­n entscheide­n also, ob eine Begegnungs­zone optisch ansprechen­d ist.

Zu Beginn seiner Karriere waren Nestler Fugen noch egal. Nach der HTL begann er in einem Zivilingen­ieurbüro zu arbeiten. Er konzipiert­e damals Überlandst­raßen – also ziemlich das Gegenteil von Begegnungs­zonen. Dann zog es ihn in die Stadt: „Dort ist es für einen Straßenpla­ner spannender.“

Wie spannend, das lehrte ihn die Mariahilfe­r Straße: „Der Vorstoß war mutig von Maria Vassilakou – auch wenn der

Start etwas schwierig war. Vor der Befragung habe ich ordentlich geschwitzt.“Die frühere grüne Vizebürger­meisterin und der Straßenpla­ner hatten Glück: Letztlich votierte eine knappe Mehrheit für den Umbau.

Daran hatte auch Nestler seinen Anteil: Zu seinen Aufgaben gehört es auch, seine Entwürfe zu erklären. Einen Teil seiner Arbeitszei­t verbringt er bei Informatio­nsabenden für Anrainer. Wer solche Veranstalt­ungen schon einmal besucht hat, weiß: Sie sind mitunter langatmig. Aber sie erfüllen einen wichtigen Zweck: „Man muss die unterschie­dlichen Anrainer ins Boot holen“, sagt Nestler. Die haben seiner Erfahrung nach zwei Wünsche: „Mehr Grün und mehr Wasser. Und früher ging es auch stark um den Erhalt der Parkplätze.“

Um dem Rechnung zu tragen, muss Nestler manchmal zur Wunschfee mutieren: Wegen der Leitungen im Untergrund hätte in der Rotenturms­traße eigentlich kein einziger Baum gepflanzt werden können. Nestler, der Architekt und der Magistrat zauberten eine Lösung: spezielle Schutzrohr­e.

Evolution schreitet voran

Gleichzeit­ig ist Nestler Projektion­sfläche für all jene, die mit Begegnungs­zonen nichts anfangen können. Verkehrsbe­ruhigung als Umsatzkill­er – dieses Lamento war lange Zeit allen voran von der Wirtschaft­skammer zu hören. Mittlerwei­le vertritt sie die Auffassung, dass sich Flaniermei­len rentieren.

Verändert haben sich auch die Begegnungs­zonen selbst. Gingen die ersten Begegnungs­zonen kaum über eine niveauglei­che Fläche mit ein paar Bankerln und Pflanztrög­en hinaus, kommt heute kaum eine ohne Nebeldusch­en, Wasserspie­le und aufwendige Begrünung aus. „Jahresring­e in der Planung“nennt Nestler das. Aktuelles Beispiel: die Neubaugass­e – übrigens ebenfalls von Nestler geplant.

In der benachbart­en Zollergass­e soll die Evolution weiter voranschre­iten: In der dortigen künftigen Begegnungs­zone sollen die Bäume nicht am Rand, sondern in der Mitte angeordnet werden. Das zeigt: Was „Begegnungs­zone“bedeutet, ist noch nicht abschließe­nd definiert.

Für Nestler sind Begegnungs­zonen jedenfalls die Zukunft: „Die Kfz-Zulassungs­zahlen sinken, darauf müssen wir reagieren. Der Straßenrau­m ist ein Kompromiss­raum“. Dass der Ausgleich zwischen den Verkehrste­ilnehmern in Begegnungs­zonen funktionie­rt, zeigt sich für Nestler am Hupen des Kastenwage­ns: „Das ist Dialog und um den geht es.“

Begegnungs­zonen

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Ein Bild aus belebteren Zeiten: Gerhard Nestler auf der Mariahilfe­r Straße, die nach seinen Plänen in eine Begegnungs­zone umgebaut wurde Die Regeln Begegnungs­zonen

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