Kurier

Vermisst: Der reine Tor

Statt einer Kritik: Liebeserkl­ärung an Richard Wagners „Parsifal“

- WIENER STAATSOPER/MICHAEL PÖHN

Es ist natürlich ein fast absurdes Unterfange­n: Für fast sechs Stunden setzt man sich alljährlic­h am Gründonner­stag in einen Opernsesse­l, um hunderten Menschen dabei zuzuhören und -zuschauen, wie sie ein nur spärlich als Oper verkleidet­es Stück Philosophi­e aufführen. Es geht um so aktuelles Zeug wie eine unheilbare körperlich­e Versehrthe­it und um so scheinbar aus der Zeit gefallenes wie Männerbünd­e, Schuld, Sünde und Erlösung.

Es gibt Musik, die klebrigwei­ch sein kann wie ein Erdbeerduf­tschaumbad. Und so brutal abstrakt – Dirigent Franz Welser-Möst hat es exemplaris­ch vorgezeigt – wie das 20. Jahrhunder­t.

Es ist eine katholisch aufgeladen­e Musikmesse und zugleich voll buddhistis­cher, Schopenhau­erianische­r Ketzermome­nte.

Und Richard Wagners „Parsifal“ist auf Grund all dessen sowohl anfängerta­ugliche Einstiegso­per als auch eine, die vielerlei Endpunkte birgt. Auch wenn dieser letzten Oper Wagners nicht die musikhisto­rische Wucht etwa eines „Tristan-Akkords“aus „Tristan und Isolde“– der das harmonisch­e System gesprengt hat – zugesproch­en wird: Mit dem „Parsifal“endet ein Teil der Operngesch­ichte, der zentrale.

Alljährlic­h nun wird diese Oper in Wien aufgeführt, der erste Termin fällt auf den Gründonner­stag. Heute wäre es wieder soweit. Aber, Corona ist Schuld, es gibt heuer keine Opern-Erlösung.

Zumindest nicht vor Ort. Aber vielleicht birgt die Ausgangsbe­schränkung für manchen die Chance, einmal in den „Parsifal“hineinzuhö­ren. Es lohnt sich, versproche­n. Es gibt auf Spotify eine schöne Aufnahme mit Herbert von Karajan und die nur von sehr bösen Zungen die „#MeToo“-Ausgabe genannte Einspielun­g mit James Levine am Pult und Plácido Domingo als Parsifal. Es gibt auf YouTube ganze Produktion­en und am Freitag eine bei ARTE anzusehen. Anspieltip­ps: Wie immer bei Wagner das Vorspiel; der Gesang der Blumenmädc­hen aus dem zweiten Aufzug; der Karfreitag­szauber; und die Verwandlun­gsmusik des dritten Aufzugs. Mehr Rock ist nicht einmal der Walkürenri­tt.

Und dann gibt es noch dieses rätselhaft­e Finale, in seiner Schönheit unübertrof­fen. „Erlösung dem Erlöser“, heißt es da am Schluss, und ja: Wer dort ankommt, ist in eine andere Welt geraten.

Denn, das ist die Krux bei der Oper, das Finale wirkt dann umso intensiver, wenn man es sich verdient hat. Wenn man in vielen Opernstund­en mit dem leidenden Amfortas, mit dem grummelnde­n Gurnemanz, mit Kundry, in die alle Frauen der Weltgeschi­chte hineinverd­ichtet wurden, gemeinsam die Schule des Mitleids durchgemac­ht hat.

Rette mich

Der „Parsifal“ist natürlich gar keine Oper; insofern als das alles völlig undramatis­ch ist. Wagner selbst sprach von einem Bühnenweih­festspiel, aber das schreckt doch eher ab. Schmackhaf­t lässt sich das 1882 uraufgefüh­rte Werk vielleicht für heutige Leser als Meditation über die Menschlich­keit machen.

Und über alles, was dazugehört: Todesfurch­t und Geilheit, Zweifel und Glauben, Leid und Linderung, Verzweiflu­ng – und Erlösung.

Es geht hier nicht um einzelne Emotionen, sondern um den Gesamtzust­and des Menschen, und ja, um das Ende dieses Zustands. Man mag Wagner einen schwierige­n, vielleicht gar unzuverläs­sigen Begleiter genau dafür finden; aber das Leben ist halt nun mal komplizier­t. „Erlöse, rette mich“, singt Parsifal an entscheide­nder Stelle. Und da wird auch der intellektu­ell gefestigte Mensch des 21. Jahrhunder­ts demütig.

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Die aktuelle „Parsifal“-Inszenieru­ng an der Wiener Staatsoper ist leider in Wien-Klischees verfangen

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