Vermisst: Der reine Tor
Statt einer Kritik: Liebeserklärung an Richard Wagners „Parsifal“
Es ist natürlich ein fast absurdes Unterfangen: Für fast sechs Stunden setzt man sich alljährlich am Gründonnerstag in einen Opernsessel, um hunderten Menschen dabei zuzuhören und -zuschauen, wie sie ein nur spärlich als Oper verkleidetes Stück Philosophie aufführen. Es geht um so aktuelles Zeug wie eine unheilbare körperliche Versehrtheit und um so scheinbar aus der Zeit gefallenes wie Männerbünde, Schuld, Sünde und Erlösung.
Es gibt Musik, die klebrigweich sein kann wie ein Erdbeerduftschaumbad. Und so brutal abstrakt – Dirigent Franz Welser-Möst hat es exemplarisch vorgezeigt – wie das 20. Jahrhundert.
Es ist eine katholisch aufgeladene Musikmesse und zugleich voll buddhistischer, Schopenhauerianischer Ketzermomente.
Und Richard Wagners „Parsifal“ist auf Grund all dessen sowohl anfängertaugliche Einstiegsoper als auch eine, die vielerlei Endpunkte birgt. Auch wenn dieser letzten Oper Wagners nicht die musikhistorische Wucht etwa eines „Tristan-Akkords“aus „Tristan und Isolde“– der das harmonische System gesprengt hat – zugesprochen wird: Mit dem „Parsifal“endet ein Teil der Operngeschichte, der zentrale.
Alljährlich nun wird diese Oper in Wien aufgeführt, der erste Termin fällt auf den Gründonnerstag. Heute wäre es wieder soweit. Aber, Corona ist Schuld, es gibt heuer keine Opern-Erlösung.
Zumindest nicht vor Ort. Aber vielleicht birgt die Ausgangsbeschränkung für manchen die Chance, einmal in den „Parsifal“hineinzuhören. Es lohnt sich, versprochen. Es gibt auf Spotify eine schöne Aufnahme mit Herbert von Karajan und die nur von sehr bösen Zungen die „#MeToo“-Ausgabe genannte Einspielung mit James Levine am Pult und Plácido Domingo als Parsifal. Es gibt auf YouTube ganze Produktionen und am Freitag eine bei ARTE anzusehen. Anspieltipps: Wie immer bei Wagner das Vorspiel; der Gesang der Blumenmädchen aus dem zweiten Aufzug; der Karfreitagszauber; und die Verwandlungsmusik des dritten Aufzugs. Mehr Rock ist nicht einmal der Walkürenritt.
Und dann gibt es noch dieses rätselhafte Finale, in seiner Schönheit unübertroffen. „Erlösung dem Erlöser“, heißt es da am Schluss, und ja: Wer dort ankommt, ist in eine andere Welt geraten.
Denn, das ist die Krux bei der Oper, das Finale wirkt dann umso intensiver, wenn man es sich verdient hat. Wenn man in vielen Opernstunden mit dem leidenden Amfortas, mit dem grummelnden Gurnemanz, mit Kundry, in die alle Frauen der Weltgeschichte hineinverdichtet wurden, gemeinsam die Schule des Mitleids durchgemacht hat.
Rette mich
Der „Parsifal“ist natürlich gar keine Oper; insofern als das alles völlig undramatisch ist. Wagner selbst sprach von einem Bühnenweihfestspiel, aber das schreckt doch eher ab. Schmackhaft lässt sich das 1882 uraufgeführte Werk vielleicht für heutige Leser als Meditation über die Menschlichkeit machen.
Und über alles, was dazugehört: Todesfurcht und Geilheit, Zweifel und Glauben, Leid und Linderung, Verzweiflung – und Erlösung.
Es geht hier nicht um einzelne Emotionen, sondern um den Gesamtzustand des Menschen, und ja, um das Ende dieses Zustands. Man mag Wagner einen schwierigen, vielleicht gar unzuverlässigen Begleiter genau dafür finden; aber das Leben ist halt nun mal kompliziert. „Erlöse, rette mich“, singt Parsifal an entscheidender Stelle. Und da wird auch der intellektuell gefestigte Mensch des 21. Jahrhunderts demütig.