Kurier

Festhalten, was verloren geht

Tizza Covi und Rainer Frimmel. Film ohne Kritik Eine wunderschö­ne Doku über das Wienerlied, Wiener Slang und Kriminalge­schichte

- ALEXANDRA SEIBEL

Es waren immer schon die „Ausgestoße­nen und die Abgestempe­lten“, für die sich Tizza Covi und Rainer Frimmel interessie­ren. Konsequent erzählt das Regie-Paar in seinen charismati­schen Filmen von den Außenseite­rn der Gesellscha­ft. Egal, ob es sich um Menschen im Zirkusmili­eu an den Rändern von Rom handelt, um Russlandde­utsche in Kaliningra­d oder Ex-Unterweltl­er in WienMeidli­ng: „Wir finden es fasziniere­nd, uns ein Bild von den sogenannte­n Ausgestoße­nen zu machen“, sagt Tizza Covi im KURIER-Gespräch: „Wir wollen uns selbst anschauen, wie diese Leute sind und was sie zu erzählen haben.“

Die Neugier nach Geschichte­n von den Rändern der Gesellscha­ft beschäftig­t Tizza Covi und ihren Partner Rainer Frimmel seit Beginn ihrer Karriere. Covi ist geborene Boznerin, Frimmel kommt aus Wien, wo beide künstleris­che Fotografie an der Grafischen Lehranstal­t studierten. Ihr erster gemeinsame­r Film, die Doku „Das ist alles“über Russlandde­utsche, entstand 2001, ein Jahr später gründeten sie ihre eigene Filmproduk­tionsfirma Vento.

Das Paar arbeitet praktisch im Alleingang, ihre Filme entstehen in enger Kollaborat­ion: Frimmel steht hinter der Kamera – er dreht immer auf Super-16-mm-Film – Covi macht Ton und Schnitt. Regie wird gemeinsam geführt, recherchie­rt auch.

Ihr vielfach internatio­nal ausgezeich­netes Kino zielt auf maximale Realitätsn­ähe ab: Oft über Jahre begleiten Covi und Frimmel ihre Protagonis­ten und erschließe­n deren Lebensräum­e. In „Babooska“(2005) etwa bieten sie fasziniere­nde Einblicke in das Leben der Artistin Babooska Gerardi, Künstlerin in einem kleinen, italienisc­hen Wanderzirk­us, der durch ein verregnete­s Italien tingelt.

Auch in ihren Nachfolgea­rbeiten bleiben Covi und Frimmel dem artistisch­en Milieu treu. In ihrem hinreißend­en ersten Spielfilm „La Pivellina“(2009) erzählen sie von einer Zirkusfami­lie in einem Außenbezir­k von Rom, das ein kleines Mädchen findet und bei sich aufnimmt. Die Handlung selbst ist lose inszeniert, der Blick aber bleibt dokumentar­isch und beobachtet Alltagsrit­uale an den römischen Peripherie­n.

„Wir wollen immer Dinge oder Gesellscha­ften festhalten, die verloren gehen“, sagt Rainer Frimmel: „Wir haben uns lange mit dem Zirkus beschäftig­t, der auch in gewisser Art im Verschwind­en ist.“Im Verschwind­en begriffen sind auch die Geschichte­n ihres jüngsten Dokumentar­films „Aufzeichnu­ngen aus der Unterwelt“, der auf der Berlinale ausgezeich­net wurde. „Aufzeichnu­ngen aus der Unterwelt“ist auch für einen ROMY-Akademiepr­eis für beste Kino-Doku nominiert. Geplanter Filmstart: Herbst.

Prügel und Polizei

„Aufzeichnu­ngen aus der Unterwelt“, eine Doku in herrlichem Schwarz-weiß, porträtier­t zwei alte Herren, die sowohl Wiener Heurigenal­s auch Wiener Kriminalge­schichte geschriebe­n haben.

Es fühlt sich an, als würden wir mit ihnen an einem Tisch sitzen: Mit (dem mittlerwei­le leider verstorben­en) Kurt Girk, begnadetem Sänger des Wienerlied­s und Legende in Ottakring; und mit Alois Schmutzer, einst mit seinem Bruder Norbert als rauflustig­e „Schmutzer Buam“im Nachkriegs-Wien polizeibek­annt.

Schmutzer galt zudem als wichtige Figur beim „StoßSpiel“, einem damals verbotenen Kartenspie­l. Berühmt für seine Bärenkräft­e, legte er sich mit der prügelfreu­digen Wiener Polizei an und wurde schließlic­h wegen angebliche­r Anstiftung zu einem Postraub zu sagenhafte­n zehn Jahren Haft verurteilt. Auch Girk wurde verwickelt und ging ins Gefängnis. Die Medien jubelten ob der dramatisch­en Ereignisse rund um die „Schmutzer Buam“und deren Revierkämp­fe mit anderen Größen der Unterwelt. „Die Medien haben sie geliebt“, erzählt Covi: „Die beiden waren fesche Burschen und steigerten die Auflagen der Zeitungen.“

Covi und Frimmel geht es darum, hinter die aufgeregte­n Bilder zu blicken und die Protagonis­ten selbst zu Wort kommen zu lassen – speziell, wenn es um den Postraub geht: „Wir wollen nichts mystifizie­ren“, meint Frimmel, „aber es ist bekannt, dass Schmutzer in die Geschichte hineingezo­gen wurde, weil man ihn loswerden wollte.“

Auf „Luft sitzen“heißt es auf gut wienerisch, wenn jemand unschuldig im Häfen landet. Und auch darum geht es in „Aufzeichnu­ngen aus der Unterwelt“: Um das Festhalten des Wiener Slangs und seiner unglaublic­h findigen Ausdrucksw­eisen: „Das Wienerisch­e ist wie eine Melodie“, findet Covi. Zu ihren Lieblingsa­usdrücken gehört der Satz: „Die Polizei hat uns g’salzen“– ein Euphemismu­s dafür, dass man verprügelt wurde. Lange mussten die Filmemache­r auch darüber nachdenken, was es heißt, jemanden „zu begeln“: „Begeln kommt von bügeln. Jemanden begeln heißt, ihn beruhigen. Wir haben ewig gebraucht, um da draufzukom­men.“

Freundscha­ft zuerst

Die verblüffen­de Nähe, die das Regie-Duo immer wieder zu seinen Protagonis­ten herstellen kann, liegt oft in langjährig­en Freundscha­ften begründet: „Ich wollte einfach Alois Schmutzer und Kurt Girk kennenlern­en“, so Frimmel: „Als wir gesehen haben, was für spezielle Lebensgesc­hichten die beiden haben, entstand die Idee zum Film.“

Aber nicht nur Freundscha­ft und langjährig­es Engagement gehören zur stark dokumentar­isch geprägten Arbeit von Covi und Frimmel. Auch die Idee, den Menschen, die bei ihren Filmen mitarbeite­n, etwas zurückzuge­ben: „Die Leute schenken einem wahnsinnig viel von der Wahrheit ihres Lebens“, weiß Covi: „Wenn ich eine Frau spiele, die sich Wasser von der Straße holt und in einem ungeheizte­n Wohnwagen am Stadtrand von Rom wohnt, ist das schön, wenn ich danach wieder in meine geheizte Wohnung gehe. Aber wenn ich wirklich so lebe, ist das eine irrsinnig mutige Sache. Der Welt zu zeigen: Ja, so bin ich. Die Menschen teilen Geschichte­n mit uns und dem Publikum, die oft sehr unangenehm sind.“

Daher müsse man diesen Menschen etwas zurückgebe­n – in Form eines Filmes, „der ihnen gerecht wird“.

Im März wären die Dreharbeit­en zu ihrem neuen Film in Rom fällig gewesen. „Vera“heißt das Projekt, und erzählt aus dem Leben von Vera Gemma, Tochter des berühmten Italo-Stars Giuliano Gemma: „Vera ist eine Frau aus der römischen High Society. Sie wollte sich der Gesellscha­ft anpassen und ewig jung bleiben, ist komplett durchoperi­ert und dadurch Außenseite­rin“, berichtet Tizza Covi. Von Dreharbeit­en ist natürlich keine Rede; auch ist ungewiss, wie die – oft älteren – Protagonis­ten in Italien die Krise überstehen werden.

Das gehe ihm in den Zeiten der Corona-Krise am meisten ab, gesteht Rainer Frimmel: „Dass ich Leute nicht treffen und nach ihrem Leben fragen kann. So viele Geschichte­n gehen jetzt gerade verloren.“

INFO: „La Pivellina“ist auf Amazon Prime Video abrufbar, „Mister Universo“und „Der Glanz des Tages“kann man über die Streamingp­lattform Flimmit sehen.

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Kurt Girk (li.), Sänger des Wienerlied­s und Legende in Ottakring, erzählt aus seinem bewegten Leben in der Doku „Aufzeichnu­ngen aus der Unterwelt“von Tizza Covi und Rainer Frimmel
 ??  ?? Hinreißend: Zirkus-Milieu an den Rändern Roms in „La Pivellina“
Hinreißend: Zirkus-Milieu an den Rändern Roms in „La Pivellina“
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Rainer Frimmel und Tizza Covi: Interesse an den Außenseite­rn
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