Das juristische Totschlagargument vom Menschenleben
Wenn Politiker die Mathematik über Freiheitsbeschränkungen entscheiden lassen, muss man sich um Grundrechte sorgen
Österreich ist anders geworden. Sehr anders, auch wenn die meisten es einfach so hinzunehmen scheinen. Schrittweises Hochfahren der Wirtschaft hin oder her – wir leben urplötzlich mit polizeistaatlichen Verhältnissen und gravierenden Einschränkungen unserer Grundrechte, die diktatorischen Regimes bestens anstünden.
Oft wurde davon gesprochen, dass dies die „neue Normalität“sei und dass die alte Normalität nicht mehr zurückkäme. Als aufrechtem Demokraten und Vertreter rechtsstaatlicher Grundsätze müssen einem hier alle Warnlichter angehen. Und jedem halbwegs juristisch versierten Menschen ist inzwischen klar, dass die gegenwärtigen Maßnahmen nicht mit einem oberflächlichen „angesichts der großen Gefahr sind die derzeitigen Einschränkungen sicher verhältnismäßig“abgetan werden dürfen.
Unschlagbar
Denn: Menschenleben zu retten, ist ein unschlagbares Argument, und so wird es auch als Rechtfertigung für die gegenwärtigen Maßnahmen stets aus der Tasche gezogen, sobald Kritik laut wird.
Dieses Argument lässt sich jedoch in nahezu allen Bereichen des Staatshandelns ins Treffen führen, wie etwa auch im Verkehr, dem Klimaschutz und bei allen Gewaltdelikten. Überall ließe sich behaupten, die totale Überwachung (Tracking, Bewegungsprofile, automatisiertes Abhören) sei erforderlich, um Menschenleben zu retten.
Die vielen Verkehrstoten, Opfer der Luftverschmutzung, im Streit vorgefallene Körperverletzungen und noch viel mehr ließe sich nahezu komplett abstellen.
Greift der Staat einmal in diese annähernd unerschöpfliche Trickkiste, ist kein Ende absehbar, und wir sind unsere Entscheidungsfreiheit und Privatsphäre wohl endgültig los.
Massive Grundrechtseinschränkungen sind keine Bagatellsache. Und ihre verfassungsrechtliche Beurteilung ist keine „juristische Spitzfindigkeit“. Die objektive Prüfung der Verhältnismäßigkeit solcher Maßnahmen ist auch nicht „dumm“.
Im Gegenteil: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wenn Bürgern pauschal die Bewegungsfreiheit genommen wird, und die Wirtschaft von massiven Einschränkungen der Erwerbsfreiheit betroffen ist, sind Aussagen – wie die hier nur ansatzweise zitierten – keineswegs angebracht.
Ja, kein Zweifel: Ein Konzept zur Bekämpfung der unkontrollierten Ausbreitung von Covid-19 ist wichtig. Und mit einer potenziellen Katastrophe vor Augen gelungene Entscheidungen
zu treffen, ist verdammt schwierig. Aber es wird noch schwieriger, eine verfassungskonforme Entscheidung zu wählen, wenn man dabei die Mathematik die führende Rolle einnehmen lässt.
Zahlen können eine initiale Entscheidungshilfe sein, nicht mehr. Als Bürger eines liberalen Staates darf man verlangen, dass die handelnden Akteure auch in Zeiten von Covid-19 unseren freiheitlichen Errungenschaften und den liberalen Grundrechten höchste Wertschätzung entgegenbringen.
Einschränkungen sind zwar systembedingt möglich und manchmal unumgänglich, aber nicht um jeden Preis. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.