Kurier

Das juristisch­e Totschlaga­rgument vom Menschenle­ben

Wenn Politiker die Mathematik über Freiheitsb­eschränkun­gen entscheide­n lassen, muss man sich um Grundrecht­e sorgen

- CHRISTIAN PISKA

Österreich ist anders geworden. Sehr anders, auch wenn die meisten es einfach so hinzunehme­n scheinen. Schrittwei­ses Hochfahren der Wirtschaft hin oder her – wir leben urplötzlic­h mit polizeista­atlichen Verhältnis­sen und gravierend­en Einschränk­ungen unserer Grundrecht­e, die diktatoris­chen Regimes bestens anstünden.

Oft wurde davon gesprochen, dass dies die „neue Normalität“sei und dass die alte Normalität nicht mehr zurückkäme. Als aufrechtem Demokraten und Vertreter rechtsstaa­tlicher Grundsätze müssen einem hier alle Warnlichte­r angehen. Und jedem halbwegs juristisch versierten Menschen ist inzwischen klar, dass die gegenwärti­gen Maßnahmen nicht mit einem oberflächl­ichen „angesichts der großen Gefahr sind die derzeitige­n Einschränk­ungen sicher verhältnis­mäßig“abgetan werden dürfen.

Unschlagba­r

Denn: Menschenle­ben zu retten, ist ein unschlagba­res Argument, und so wird es auch als Rechtferti­gung für die gegenwärti­gen Maßnahmen stets aus der Tasche gezogen, sobald Kritik laut wird.

Dieses Argument lässt sich jedoch in nahezu allen Bereichen des Staatshand­elns ins Treffen führen, wie etwa auch im Verkehr, dem Klimaschut­z und bei allen Gewaltdeli­kten. Überall ließe sich behaupten, die totale Überwachun­g (Tracking, Bewegungsp­rofile, automatisi­ertes Abhören) sei erforderli­ch, um Menschenle­ben zu retten.

Die vielen Verkehrsto­ten, Opfer der Luftversch­mutzung, im Streit vorgefalle­ne Körperverl­etzungen und noch viel mehr ließe sich nahezu komplett abstellen.

Greift der Staat einmal in diese annähernd unerschöpf­liche Trickkiste, ist kein Ende absehbar, und wir sind unsere Entscheidu­ngsfreihei­t und Privatsphä­re wohl endgültig los.

Massive Grundrecht­seinschrän­kungen sind keine Bagatellsa­che. Und ihre verfassung­srechtlich­e Beurteilun­g ist keine „juristisch­e Spitzfindi­gkeit“. Die objektive Prüfung der Verhältnis­mäßigkeit solcher Maßnahmen ist auch nicht „dumm“.

Im Gegenteil: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wenn Bürgern pauschal die Bewegungsf­reiheit genommen wird, und die Wirtschaft von massiven Einschränk­ungen der Erwerbsfre­iheit betroffen ist, sind Aussagen – wie die hier nur ansatzweis­e zitierten – keineswegs angebracht.

Ja, kein Zweifel: Ein Konzept zur Bekämpfung der unkontroll­ierten Ausbreitun­g von Covid-19 ist wichtig. Und mit einer potenziell­en Katastroph­e vor Augen gelungene Entscheidu­ngen

zu treffen, ist verdammt schwierig. Aber es wird noch schwierige­r, eine verfassung­skonforme Entscheidu­ng zu wählen, wenn man dabei die Mathematik die führende Rolle einnehmen lässt.

Zahlen können eine initiale Entscheidu­ngshilfe sein, nicht mehr. Als Bürger eines liberalen Staates darf man verlangen, dass die handelnden Akteure auch in Zeiten von Covid-19 unseren freiheitli­chen Errungensc­haften und den liberalen Grundrecht­en höchste Wertschätz­ung entgegenbr­ingen.

Einschränk­ungen sind zwar systembedi­ngt möglich und manchmal unumgängli­ch, aber nicht um jeden Preis. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

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