Kurier

Die Renaissanc­e des Fensterban­kerls

Retrotrend. Ausgangsbe­schränkung­en lassen das Fenster zum Tor in die Welt werden. Das war es schon einmal

- VON CHRISTIAN WILLIM

Es ist eine Erinnerung an die Kindheit im Innsbruck der 70er-Jahre: Die Temperatur­en sind frühsommer­lich. Die Oma hat einen Polster, der nur fürs Fensterban­kerl ist und nun wieder zum Einsatz kommt. Darauf gestützt lässt es sich stundenlan­g vom kommunalen Wohnblock aus nach draußen blicken.

Dem Enkel wird erklärt, dass es erst wieder an den See geht, wenn die Berge schneefrei sind. Also ab in den Hof. Oma drückt derweil die Fensterban­k. Von dort wird mit Nachbarn getratscht. Und – so viel Ehrlichkei­t muss sein – die eigene Neugier befriedigt.

„Die Neuigkeite­n gab es quer über die Straße oder von Fenster zu Fenster. Man hielt ein Schwätzche­n ab“, erzählt Jens Dangschat, Wohnsoziol­oge der TU Wien.

„Damals gab es noch nicht so viele Fernsehpro­gramme und kein Internet. Und es tat sich draußen auch noch mehr, da noch viel mehr Fußgänger unterwegs waren“, sagt der gebürtige Hamburger, der seit 22 Jahren in Wien lebt.

Von Gesicht zu Gesicht

Das Fensterban­kerl feiert derzeit eine regelrecht­e Renaissanc­e. Gezwungene­rmaßen. Für ältere Menschen ist in Corona-Zeiten das Gespräch vom Fenster in den Hof mitunter die einzige Möglichkei­t, mit ihren Enkeln oder Kindern von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.

Diese Not macht erfinderis­ch. So mancher lässt sich in Wien derzeit sogar die Einkäufe durchs Fenster liefern. Ein kleiner Korb, eine belastbare Schnur. Schon ist der improvisie­rte Lastenlift zur kontaktlos­en Übergabe perfekt.

Und die Krise hat noch ein Phänomen, das in Italien seinen Ausgang nahm, in die Großstadt gebracht. Bei Fensterkon­zerten wird – immer um 18 Uhr – über die Straßen hinweg musiziert. Oder zumindest das Radio laut gestellt. (Wien wäre freilich nicht Wien, wenn zu viel südländisc­he Lebensfreu­de nicht auch den Grant befeuern würde: „Ruuhe! So schen ist des ned!“, brüllt eine Wienerin in einem Video, das auf Social Media Kultstatus hat.)

Wieder andere klatschen aus dem Fenster – eine Solidaritä­tskundgebu­ng

für die Hilfskräft­e. „Das Klatschen, das Musizieren sind neue Formen, mit der Isolation umzugehen, sich gegenseiti­g Mut zu machen“, sagt Dangschat.

Das Fenster ist somit wieder Tor zur Welt. Die Anonymität, die sich in Städten breitgemac­ht hat, endet ein Stück weit. „Einige Nachbarn sehen sich erstmalig, weil man aus dem Fenster sieht oder auf den Balkon hinaustrit­t“, sagt der Soziologe. Plötzlich wird den anderen zugenickt, ganz Mutige lassen sich sogar zu einem Winken verleiten.

Der Nachbar, das unbekannte Wesen. Dass er dazu wurde, hat unter anderem mit der über Jahrzehnte gesteigert­en Mobilität und Flexibilit­ät zu tun. Ein Job und eine Wohnung ein Leben lang, das gibt es nicht mehr. Mieter siedeln in Österreich im Schnitt fünf Mal in ihrem Leben um.

Im gleichen Haus geboren

Das wirkt sich auch auf Nachbarsch­aften aus, die laut Dangschat früher anders geprägt waren: „Man kannte sich untereinan­der und war teilweise im gleichen Haus geboren, in dem man dann selbst 30, 40 Jahre lebte.“

Anonymität war da ein Fremdwort: „Man kannte die Nachbarsch­aft als Bestandtei­l des eigenen Lebens. Man half sich. Es gab nicht viel außerhalb. Man hatte teilweise das gemeinsame Klo am Gang.“

Verklärt werden darf der Blick auf die Zeit der Fensterban­kerldrücke­r aber nicht. „Das war auch soziale Kontrolle. Wir wurden vom Hausmeiste­r erzogen. Das war eng und spießig. Wir haben versucht, uns daraus zu befreien“, erinnert sich der emeritiert­e TU-Professor an seine eigene Kindheit.

Die Kehrseite der Befreiung aus dieser Überwachun­g: „Wir haben auch die positiven Dinge verloren. Etwa, dass Kinder noch auf der Straße spielen konnten. Das war ja teilweise auch eine wohlmeinen­de Kontrolle.“

Die teils schwer durchschau­baren Beschränku­ngen bieten den Vernaderer­n nun eine neue Spielwiese (siehe

Artikel unten). Dass ihre Zahl in der Krise zugenommen hat, glaubt Dangschat nicht: „Einzelne haben ihre Blockwartm­entalität aber nie ganz aufgegeben.“

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