Leben ohne das Hochamt der Wurschtigkeit
Song Contest. Ein Leben ohne ESC ist möglich. Aber sinnlos
„Open up“(„Öffne dich“) lautet das Motto des heurigen Eurovision Song Contests. Der findet laut Kalender von heute bis Samstag im niederländischen Rotterdam statt. Mit dem Schönheitsfehler, dass er abgesagt ist und sein Motto nachträglich wie ein trauriges Flehen gilt: Bitte, bitte sperrt unsere Welt wieder auf!
Ein Leben ohne ESC ist möglich, aber sinnlos. So sinnbefreit die Veranstaltung Jahr für Jahr daherkommt, so wichtig ist sie als Fixpunkt im jährlichen Veranstaltungsreigen. Der ESC hat einen eigenen Sound hervorgebracht, der aus Pathos, mehr oder weniger vorhandener Stimme und noch mehr Effekthascherei besteht und in Äquidistanz zu Powerballade, Musical und Schlager steht.
Song Contest ist die geschmackvolle Geschmacksbefreitheit, die Völkerverständigung durch aufdringliche Kostümierung, durch aufgeregte wechselseitige
Punktevergabe ein Abend des bunten Kreischens.
Er ist ein Hochamt der Wurschtigkeit. Ein Gewinn kommt einem Danaergeschenk gleich: Teure Technik, umfassende Sicherheitsvorleistungen treffen auf eine hoffentlich vorbereitete Touristik, um den Rahmen für ein überschwängliches Fest zu bieten.
Die interessanteste Eigenschaft des ESC ist sein
Herauswachsen aus der Kreuzbiederheit des Nachkriegsschlagers: Damals trat man zur Eurovision de la Chanson artig in Sakko und Kostüm auf und fiel auch sonst nicht aus der Reihe.
So fad wie das klingt, wurde es irgendwann auch dem Publikum und nach Jahren des Grauens, die von Thomas Forsters fliederfarbenem Outfit bis zu Guildo Horn und Alf Poier reichten, fing sich der ESC. Und zwar ausgerechnet bei einem Publikum, das man zehn Jahre davor vielleicht der Love Parade zugerechnet hätte: Friede, Freude, Eierkuchen und eine gehörige Portion Toleranz werden hier von oft schwulen Fangruppen zelebriert. Und das Erstaunliche ist: Die ursprüngliche Klientel, die sich einfach einen harmlosen Liederabend wünscht, über dessen Ablauf man sich ohne großen Aufwand eine Meinung bilden kann, blieb weiter dran.
Die Krönung dieser gesellschaftlich bemerkenswerten Entwicklung lieferte ausgerechnet eine bärtige Mannfrau aus Österreich: Conchita Wurst, bekannt geworden durch eine Castingshow, entschied den ESC 2014 für sich (und ließ den ORF panisch den Rechenstift zücken).
Conchita trug zudem die Haupteigenschaft dieses internationalen Liederabends im Künstlernamen: Der ESC kann uns wirklich herzlich wurscht sein. Es ist aber jammerschade, wenn wir auf ihn verzichten müssen. Auf 2021!