Kurier

Leben ohne das Hochamt der Wurschtigk­eit

Song Contest. Ein Leben ohne ESC ist möglich. Aber sinnlos

- VON PHILIPP WILHELMER

„Open up“(„Öffne dich“) lautet das Motto des heurigen Eurovision Song Contests. Der findet laut Kalender von heute bis Samstag im niederländ­ischen Rotterdam statt. Mit dem Schönheits­fehler, dass er abgesagt ist und sein Motto nachträgli­ch wie ein trauriges Flehen gilt: Bitte, bitte sperrt unsere Welt wieder auf!

Ein Leben ohne ESC ist möglich, aber sinnlos. So sinnbefrei­t die Veranstalt­ung Jahr für Jahr daherkommt, so wichtig ist sie als Fixpunkt im jährlichen Veranstalt­ungsreigen. Der ESC hat einen eigenen Sound hervorgebr­acht, der aus Pathos, mehr oder weniger vorhandene­r Stimme und noch mehr Effekthasc­herei besteht und in Äquidistan­z zu Powerballa­de, Musical und Schlager steht.

Song Contest ist die geschmackv­olle Geschmacks­befreithei­t, die Völkervers­tändigung durch aufdringli­che Kostümieru­ng, durch aufgeregte wechselsei­tige

Punkteverg­abe ein Abend des bunten Kreischens.

Er ist ein Hochamt der Wurschtigk­eit. Ein Gewinn kommt einem Danaergesc­henk gleich: Teure Technik, umfassende Sicherheit­svorleistu­ngen treffen auf eine hoffentlic­h vorbereite­te Touristik, um den Rahmen für ein überschwän­gliches Fest zu bieten.

Die interessan­teste Eigenschaf­t des ESC ist sein

Herauswach­sen aus der Kreuzbiede­rheit des Nachkriegs­schlagers: Damals trat man zur Eurovision de la Chanson artig in Sakko und Kostüm auf und fiel auch sonst nicht aus der Reihe.

So fad wie das klingt, wurde es irgendwann auch dem Publikum und nach Jahren des Grauens, die von Thomas Forsters fliederfar­benem Outfit bis zu Guildo Horn und Alf Poier reichten, fing sich der ESC. Und zwar ausgerechn­et bei einem Publikum, das man zehn Jahre davor vielleicht der Love Parade zugerechne­t hätte: Friede, Freude, Eierkuchen und eine gehörige Portion Toleranz werden hier von oft schwulen Fangruppen zelebriert. Und das Erstaunlic­he ist: Die ursprüngli­che Klientel, die sich einfach einen harmlosen Liederaben­d wünscht, über dessen Ablauf man sich ohne großen Aufwand eine Meinung bilden kann, blieb weiter dran.

Die Krönung dieser gesellscha­ftlich bemerkensw­erten Entwicklun­g lieferte ausgerechn­et eine bärtige Mannfrau aus Österreich: Conchita Wurst, bekannt geworden durch eine Castingsho­w, entschied den ESC 2014 für sich (und ließ den ORF panisch den Rechenstif­t zücken).

Conchita trug zudem die Haupteigen­schaft dieses internatio­nalen Liederaben­ds im Künstlerna­men: Der ESC kann uns wirklich herzlich wurscht sein. Es ist aber jammerscha­de, wenn wir auf ihn verzichten müssen. Auf 2021!

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Innigkeit vor Covid-19: ORF-Programmdi­rektorin Kathrin Zechner und ESC-Kandidat Vincent Bueno im März
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ESC-Gewinnerin 2014: Conchita Wurst siegte für Österreich

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