Die Geburt des Immunitätsausweises
Medizin-Geschichte. Wer im New Orleans des 19. Jahrhunderts das Gelbfieber besiegt hatte, bekam eine „Immunity Card“. Die Folgen waren fatal: Die Kluft in der Gesellschaft vertiefte sich
Als Isaac H. Charles 1847 im vom Gelbfieber gebeutelten New Orleans ankam, versuchte er nicht, wie jeder vernünftige Mensch, der gefährlichen Krankheit auszuweichen. Nein, er wollte sie bekommen – und die Immunität, wenn er denn überleben sollte. Wenig später schrieb Charles an seinen Cousin: „Mit großer Freude kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, dass sowohl mein Bruder Dick als auch ich acclimatisirt sind.“
Auch die Zeitschrift Die Gartenlaube berichtete 1853, dass man die Bevölkerung in „acclimatisirte und nicht acclimatisirte theilt. Die erstere besteht aus den Eingeborenen und Eingewanderten, welche von dem gelben Fieber schon einmal befallen worden sind, es glücklich überstanden haben und in der Regel nie wieder davon heimgesucht werden“. Es war die sogenannte „Taufe der Staatsbürgerschaft“, der Schlüssel zum Eintritt in die Gesellschaft von New Orleans.
„Ohne Immunität gegen Gelbfieber hatten Neuankömmlinge Probleme, Wohnung, Job, Kredit und eine Frau zu finden. Die Arbeitgeber waren abgeneigt, einen Mitarbeiter auszubilden, der einem Ausbruch erliegen könnte. Väter zögerten, ihre Töchter mit Männern zu verheiraten, die sterben könnten“, schreibt die US-Zeitschrift The Atlantic.
Privileg
Die Virus-Erkrankung, übertragen durch Mückenstiche, setzte der Stadt aber auch 60 Jahre lang extrem zu. Obwohl man damals noch keine Ahnung hatte, was Antikörper sind, erkannten die Menschen doch: Nach einer Erkrankung schien man geschützt zu sein. Das machte die Immunität zu einer Art Privileg und so wertvoll, dass es sich lohnte, dafür den Tod zu riskieren: Manch Neuankömmling
legte sich angeblich sogar in ein Bett, in dem gerade jemand an Gelbfieber gestorben war – ein verzweifelter Versuch, seinen Wert am Arbeitsmarkt zu steigern.
Die Forschung nennt das „perverse incentives“(falsche Anreize) – „sich dem Virus auszusetzen, weil damit ein Vorteil – am Arbeitsmarkt oder, was persönliche Freiheit
betrifft – verbunden sein kann“, erklärt der Medizinhistoriker Herwig Czech.
Kathryn Olivarius, Historikerin aus Stanford, hat die historische Gelbfieber-Epidemie erforscht und sagt: „Heute habe ich das Gefühl, tagsüber über Gelbfieber zu schreiben und mich nachts um das Coronavirus zu sorgen.“Die Krankheiten seien keine perfekten Analogien, aber in einer Welt, die von einer Pandemie heimgesucht werde, könnte die Immunität wieder zu einer Trennlinie werden.
Tatsächlich hat der britische Gesundheitsminister „Immunitätszertifikate“vorgeschlagen; in Italien und den USA wurde darüber nachgedacht, ob jenen, die
Antikörper gebildet haben, freie Beweglichkeit gestattet werden solle. Auch der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn hält nach wie vor am Immunitätsausweis fest. Schließlich wollen die Menschen in den Urlaub fahren und sollen an den Arbeitsplatz zurück. Was zunächst harmlos klingt, führte zu heftiger Kritik: Das würde zur Spaltung der Gesellschaft führen. Ein Blick zurück, bestätigt: „Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde durch das Gelbfieber größer“, schreibt Historikerin Olivarius. Für die wohlhabende Oberschicht von New Orleans war es geradezu ein Vorteil, wenn die Sterblichkeit nicht sank, weil die Arbeiter so
unter Existenzdruck gehalten wurden. Denn obwohl sich die Gelbfiebergefahr herumgesprochen hatte, kamen weiter Schiffe mit Einwanderern. Olivarius: „Krankheiten legen offen, wer in die Gesellschaft gehört und wer nicht.“
Medizinhistoriker Czech ergänzt: „Das, was da jetzt vorgeschlagen wird – ein Immunitätsausweis bei Corona –, scheint mir ziemlich präzedenzlos. Vor allem, weil wir noch nicht wissen, ob es diese Immunität überhaupt gibt. Oder wie lange sie vorhält. Und wie man sie zuverlässig nachweisen kann.“Die Gefahr, dass aufgrund des immunologischen Status diskriminiert werde, sei nicht nur groß – der Pass diene genau dazu.