Beirut: Ein unverzeihliches Versagen
Beirut. Fast sieben Jahre lang befanden sich 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat fahrlässig gelagert im Hafen von Beirut
Fast sieben Jahre lang lag im Hangar 12 des Beiruter Hafens eine Zeitbombe – in Form von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat. Im Jahr 2013 beschlagnahmte es der libanesische Zoll, sechsmal wurden die Behörden gebeten, Schritte zu setzen. Passiert ist nie etwas. Bis am Dienstag die Katastrophe ihren Lauf nahm.
Ein Schiff unter moldawischer Flagge läuft im Hafen von Beirut ein – beladen mit 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat. Das Ziel des Schiffes ist Mosambik, doch seine Ladung wird dort nie ankommen. Sie bleibt in Beirut und wird fast sieben Jahre später mutmaßlich für eine der größten Katastrophen sorgen, die die Stadt je erlebt hat. Ob die massive Explosion am Dienstag durch das Ammoniumnitrat (wird für Düngemittel, aber auch als Sprengstoff verwendet) verursacht wurde oder nicht – der Umgang mit der Fracht ist ein Sinnbild für Nachlässigkeit und Schlamperei des libanesischen Staates.
Weil die Hafensteuer nicht gezahlt worden sei, sei das Schiff festgesetzt worden. In anderen Berichten war auch die Rede davon, dass der Besatzung Treibstoff und Proviant ausgegangen seien. Nach ersten Erkenntnissen hatte es aufgrund technischer Probleme im Hafen anlegen müssen, der russische Kapitän Boris Prokoschew behauptet, in Beirut hätte zusätzliche Fracht abgeholt werden sollen.
So oder so, eine Weiterfahrt wurde dem Schiff untersagt. Im November 2013 beschlagnahmten die libanesischen Behörden die gefährliche Ladung des Schiffes „Rhosus“. Sie wurde vom Schiff getragen und im Hangar 12 untergebracht.
Unbeantwortete Briefe
Einige Monate später, im Juni 2014, schickte der damalige Direktor des libanesischen Zolls einen Brief an einen Richter, der in Dokumenten nicht vorkommt, in dem er um eine Lösung für das Ammoniumnitrat bat.
In den folgenden drei Jahren sollten fünf weitere Briefe folgen, in denen drei mögliche Schritte vorgeschlagen wurden: Das Ammoniumnitrat zu exportieren, es der libanesischen Armee zu übergeben oder es einer privaten libanesischen Sprengstofffirma zu verkaufen. Keiner der Briefe sollte beantwortet werden.
Auch nicht der Brief, der 2016 geschickt wurde. „In Anbetracht der großen Gefahr, diese Ladung in einem Hangar mit unpassenden klimatischen Bedingungen zu lagern, bitten wir, die Ladung zum Schutz des Hafens und derer, die dort arbeiten, sofort zu verkaufen oder zu exportieren“, hieß es darin.
Da hilft es wenig, dass Präsident Michel Aoun verkündete, die Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen, das Versagen von Recht und Politik hat im Libanon Tradition.
Beim Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Beirut (mehr dazu rechts) skandierten aufgebrachte Demonstranten: „Präsident Aoun ist ein Terrorist!“Das Vertrauen in die Politik ist an einem Tiefpunkt angelangt.
Unter Hausarrest
Mittlerweile befinden sich laut dem libanesischen Informationsministerium „alle, die mit der Lagerung, der Bewachung und der Dokumentation der explosiven Stoffe sei 2014 zu tun hatten“, unter Hausarrest. Ob auch die vergebens kontaktierten Richter darunter sind, ist nicht bekannt.
Indes suchen Rettungshelfer am Unglücksort weiter nach Überlebenden. Im Einsatz waren Armeesoldaten, Mitarbeiter des Roten Kreuzes und Freiwillige. Bei der gewaltigen Detonation waren am Dienstag mehr als 130 Menschen ums Leben gekommen, rund 5.000 wurden verletzt. Der Gesamtschaden liegt Berechnungen zufolge in Milliardenhöhe. Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Opfer weiter steigen wird. Noch immer werden rund 100 Menschen vermisst, knapp 300.000 sind obdachlos.
„Ich warte hier, ich bewege mich nicht weg“, rief eine Frau in Nähe des abgesperrten Hafens. „Mein Bruder arbeitete im Hafen, und ich habe von ihm nichts gehört, seitdem es die Explosion gab.“