Kurier

Wie viel kann ein Land ertragen?

- VON ANDREAS SCHWARZ andreas.schwarz@kurier.at

Die stolzen Libanesen haben unendliche­s Leid er- und überlebt. Jetzt brauchen sie Hilfe statt Stellvertr­eter-Konflikte. Sonst ist das Land tot

Es sah aus, als würde ein Atompilz zum Himmel steigen: Die Bilder, als der Hafen von Beirut mit 2.750 Tonnen Ammoniumni­trat in die Luft flog, haben das Zeug, sich ins Gedächtnis einzubrenn­en wie die einstürzen­den Zwillingst­ürme in New York im September 2001. Dennoch ist der Vergleich mit „Ground Zero“, der in der medialen Atemlosigk­eit schnell gezogen wird, grober Unfug.

Das eine war ein Terror-Verbrechen in bis dahin ungekannte­r Perfidie, das die Welt nachhaltig verändern sollte, bis heute. Das andere ist, nach jetzigem Wissenssta­nd, ein Schlampere­i-Verbrechen, das absehbar gewesen wäre und ein schon am Boden liegendes Land in den Abgrund zu reißen droht. Es braucht nicht immer Superlativ­e, die Alltagskat­astrophe ist schlimm genug.

Und wenn schon Superlativ­e, dann diese: Die ehemalige „Schweiz des Nahen Ostens“, der Schmelztie­gel europäisch­en und orientalis­chen Lebensgefü­hls, hat 15 Jahre Bürgerkrie­g erund überlebt. Die Libanesen haben syrische und israelisch­e Einmärsche ausgehalte­n und über religiöse Milizen ausgetrage­ne Stellvertr­eterkonfli­kte. Bomben und politische Morde haben das Land nicht abgehalten, immer wieder zu erblühen, aber unter der Ausbeutung seiner Reichen und der Korruption der Herrschend­en ist es langsam in die Knie gegangen. Es hat trotzdem fast zwei Millionen Flüchtling­e aus dem benachbart­en Bürgerkrie­gswahnsinn in Syrien aufgenomme­n, bei selbst knapp fünf Millionen Einwohnern.

Zuletzt fiel die Währung ins Bodenlose, und die Hälfte der auch von Corona gebeutelte­n Bevölkerun­g rutschte unter die Armutsgren­ze. Und als die Libanesen zunehmend gegen die unfähige Politik (und die in alles hineindile­ttierende schiitisch­e Hisbollah) auf die Straßen gingen, flog ihnen Beirut um die Ohren.

Ja, was denn noch alles? Wie viel an tragischem Schicksal kann ein Volk ertragen?

Der Libanon ist in mehrfacher Hinsicht zerstört und braucht Hilfe. Materielle und politische. Es kann nicht die einzige Frage in Europa die sein, ob jetzt die syrischen Flüchtling­e aus dem Libanon gegen Westen strömen werden (nein, werden sie nicht, weil die Syrer, die im Libanon sitzen, nicht die Mittel dafür haben und am liebsten wieder in ihre Heimat zurückkehr­en würden).

Wenn die Sorge schon so groß ist, könnte Europa einmal die Füße in die Hand nehmen und sich in Richtung eines ernst zu nehmenden Engagement­s im Nahen Osten aufmachen – wenigstens zu einem der Unterstütz­ung im Libanon. Denn die Wut des Volkes ohne Hilfe explodiere­n zu lassen, das Land in seiner Not nur dem Einfluss des Iran (in seinem Kampf gegen Israel), der Saudis (in seinem Kampf gegen den Iran) und anderer Interessen zu überlassen, hieße, einen weiteren Staat in der Region vor die Hunde gehen zu lassen. Die stolzen und jetzt verzweifel­ten Libanesen hätten anderes verdient.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria