Wie viel kann ein Land ertragen?
Die stolzen Libanesen haben unendliches Leid er- und überlebt. Jetzt brauchen sie Hilfe statt Stellvertreter-Konflikte. Sonst ist das Land tot
Es sah aus, als würde ein Atompilz zum Himmel steigen: Die Bilder, als der Hafen von Beirut mit 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft flog, haben das Zeug, sich ins Gedächtnis einzubrennen wie die einstürzenden Zwillingstürme in New York im September 2001. Dennoch ist der Vergleich mit „Ground Zero“, der in der medialen Atemlosigkeit schnell gezogen wird, grober Unfug.
Das eine war ein Terror-Verbrechen in bis dahin ungekannter Perfidie, das die Welt nachhaltig verändern sollte, bis heute. Das andere ist, nach jetzigem Wissensstand, ein Schlamperei-Verbrechen, das absehbar gewesen wäre und ein schon am Boden liegendes Land in den Abgrund zu reißen droht. Es braucht nicht immer Superlative, die Alltagskatastrophe ist schlimm genug.
Und wenn schon Superlative, dann diese: Die ehemalige „Schweiz des Nahen Ostens“, der Schmelztiegel europäischen und orientalischen Lebensgefühls, hat 15 Jahre Bürgerkrieg erund überlebt. Die Libanesen haben syrische und israelische Einmärsche ausgehalten und über religiöse Milizen ausgetragene Stellvertreterkonflikte. Bomben und politische Morde haben das Land nicht abgehalten, immer wieder zu erblühen, aber unter der Ausbeutung seiner Reichen und der Korruption der Herrschenden ist es langsam in die Knie gegangen. Es hat trotzdem fast zwei Millionen Flüchtlinge aus dem benachbarten Bürgerkriegswahnsinn in Syrien aufgenommen, bei selbst knapp fünf Millionen Einwohnern.
Zuletzt fiel die Währung ins Bodenlose, und die Hälfte der auch von Corona gebeutelten Bevölkerung rutschte unter die Armutsgrenze. Und als die Libanesen zunehmend gegen die unfähige Politik (und die in alles hineindilettierende schiitische Hisbollah) auf die Straßen gingen, flog ihnen Beirut um die Ohren.
Ja, was denn noch alles? Wie viel an tragischem Schicksal kann ein Volk ertragen?
Der Libanon ist in mehrfacher Hinsicht zerstört und braucht Hilfe. Materielle und politische. Es kann nicht die einzige Frage in Europa die sein, ob jetzt die syrischen Flüchtlinge aus dem Libanon gegen Westen strömen werden (nein, werden sie nicht, weil die Syrer, die im Libanon sitzen, nicht die Mittel dafür haben und am liebsten wieder in ihre Heimat zurückkehren würden).
Wenn die Sorge schon so groß ist, könnte Europa einmal die Füße in die Hand nehmen und sich in Richtung eines ernst zu nehmenden Engagements im Nahen Osten aufmachen – wenigstens zu einem der Unterstützung im Libanon. Denn die Wut des Volkes ohne Hilfe explodieren zu lassen, das Land in seiner Not nur dem Einfluss des Iran (in seinem Kampf gegen Israel), der Saudis (in seinem Kampf gegen den Iran) und anderer Interessen zu überlassen, hieße, einen weiteren Staat in der Region vor die Hunde gehen zu lassen. Die stolzen und jetzt verzweifelten Libanesen hätten anderes verdient.