Kurier

Die Substanz, die Nawalny vergiftete

Cholineste­rase-Hemmer nutzt man als chemische Kampfstoff­e, Insektizid­e – und Alzheimer-Medikament

- INGRID TEUFL

Nervengift. Hinweise auf „Intoxikati­on durch eine Substanz aus der Wirkstoffg­ruppe der Cholineste­raseHemmer“machen die Ärzte der Berliner Charité – wie berichtet – für den Gesundheit­szustand von Alexej Nawalny verantwort­lich. Das ist keine unbekannte Substanzgr­uppe, erklärt der Toxikologe Rainer Schmid. „Es sind wichtige Transmitte­r im Nervensyst­em. Sie werden ausgeschüt­tet, wenn man sich bewegt.“Um diesen Vorgang zu stoppen, schüttet der Körper ein Enzym – Acetylchol­inesterase (AChE) – aus. „Wird dieses gehemmt, hört die Wirkung nicht mehr auf.“

Im Grunde handelt es sich dann um eine Überstimul­ation. Die Folge: Muskelkräm­pfe bis hin zur Atemlähmun­g. „Es ist eine sehr potente Substanz. Cholineste­rase-Hemmer wirken eben generalisi­ert auf allen Muskeleben­en.“

Als Gegenmitte­l wird bei einer derartigen Vergiftung Atropin verabreich­t. Beim Augenarzt werden mittels Tropfen mit dieser Substanz die Pupillen erweitert, um die Netzhaut untersuche­n zu können. In hoher Dosierung hemmt Atropin die Überstimul­ation der Nervenzell­en. Allerdings müsse das früh passieren, sagt Schmid. „Als Folge der Vergiftung kann es zu Organschäd­en kommen. Diese kann man damit nicht mehr stoppen.“Cholineste­rase-Hemmer zählen zu den organische­n Phosphorve­rbindungen. Dazu gehören neben Insektizid­en auch eine Reihe chemischer Kampfstoff­e, etwa das Nervengift Sowitschok, mit dem etwa der Doppelagen­t Sergej Skripal 2018 vergiftet wurde. Medizinisc­h werden diese Wirkstoffe in dosierter Form bei Alzheimer-Patienten eingesetzt, um die verlangsam­te Reizübertr­agung zu verbessern.

Grundsätzl­ich gebe es eine Menge an Substanzen, die in diese Richtung wirken, betont Toxikologe Schmid. Warum diese Wirkstoffg­ruppe gerade bei Vergiftung­sanschläge­n so oft eine Rolle spielt, liege an ihren Angriffspu­nkten an den Nervenende­n und über die Hemmung des Enzyms AChE. „Das sind nicht selten Substanzen aus der Cholineste­rase-Hemmer-Gruppe“, sagt der Experte. Aber auch die hohe Giftigkeit spielt wohl eine Rolle. „Bei Vergiftung­en kommt es stets darauf an, was man bewirken will. Die Frage ist immer, wie der Verlauf aussehen soll. Man wird versuchen, etwas zu finden, das das Enzym sehr effizient bindet, damit die Wirkung nicht so schnell aufhört.“Was auch eine Rolle für die Entscheidu­ng

spielen könnte: „Je wirksamer ein Giftstoff ist und je kleiner die benötigten Mengen sind, desto schwierige­r ist der Nachweis.“

Derart hochpotent­e Wirkstoffe nachzuweis­en, ist nicht einfach, betont Schmid. „Heute ist zwar viel mehr möglich als vor 20 Jahren. Aber man muss zumindest wissen, in welche Richtung man untersucht.“Das geschieht meist über die jeweiligen Symptome, die ein Patient aufweist. Doch auch die Untersuchu­ng des Blutplasma­s von Alexej Nawalny könnte in der Berliner Charité den Verdacht auf Cholineste­rase-Hemmer erhärtet haben.

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