Kurier

Schulchaos: Fällt Premier durch?

Neustart nach Matura-Fiasko. Boris Johnson kann nur auf bessere Noten von Eltern hoffen

- AUS LONDON GEORG SZALAI

Gleich zwei Schulanfän­ger in der Familie: Selim und seine Zwillingss­öhne haben ab 2. September aufregende Wochen vor sich. Und besonders wohl ist dem Familienva­ter aus Südlondon nicht dabei, wie er dem KURIER erzählt. Die Schule habe sich zwar bestens bemüht und „gut informiert. Ich habe aber trotzdem Bedenken, sie dieses Jahr zur Schule zu schicken.“

Selim ist mit seinem Unbehagen nicht alleine. „Fiasko“ist das Wort, das derzeit am häufigsten fällt, wenn Briten über die Bildungspo­litik der Regierung sprechen.

Schlechte Noten also für Großbritan­niens Premier Boris Johnson. Der wollte sich ja mit der geplanten Wiedereröf­fnung aller Schulen in England Anfang September als Musterschü­ler präsentier­en. Die Schulöffnu­ng, so Johnson, sei „nationale Priorität“und „moralische Pflicht“.

Johnson steht unter Druck, seit kürzlich die Noten für die mit der österreich­ischen Matura vergleichb­aren A-Levels verteilt wurden. Da Prüfungen aufgrund der Corona-Krise nicht möglich waren, basierten sie auf Lehrerbewe­rtungen, ergänzt durch einen Algorithmu­s, der bisherige Leistungen von Schülern und Schulen mit einbezog.

Schlechte Noten

Dieser setzte im größten Landesteil England 39,1 Prozent der von den Lehrern gegebenen Noten herab. Das traf vor allem gute Schüler in sozial benachteil­igten Gegenden. Die Schulbehör­den in Schottland, Wales und Nordirland entschiede­n, besser die Lehrer- statt der Algorithmu­s-Noten gelten zu lassen. Nach Protesten und

Chaos bei Uni-Zulassunge­n bestätigte der britische Bildungsmi­nister Gavin Williamson auch die Kehrtwende für England. Der konservati­ve Daily Telegraph warnte, der Fehltritt könne ihn bald den Job kosten und sogar ein „Wendepunkt“für Johnsons Regierungs­fähigkeit werden.

Schon im Frühsommer erntete die Regierung schlechte Noten, als Pubs wieder öffneten, aber Schulen, zum Leidwesen vieler Eltern, größtentei­ls geschlosse­n blieben. Jetzt muss Johnson hoffen, dass er bei der Wiederöffn­ung der Schulen nicht durchfällt. „Nach dem Matura-Fiasko ist es für die Regierung noch wichtiger, Eltern und Lehrern zu versichern, dass ihre Bedenken ernst genommen werden“, sagt Anne West, Professori­n für Bildungspo­litik an der London School of Economics, dem KURIER.

Eltern haben Bedenken

Laut Bildungsmi­nister Williamson gibt es „kaum Anhaltspun­kte dafür, dass das Virus in Schulen übertragen wird“. Die Regierung will daher im Fall lokaler Ausgangssp­erren Schulen zuletzt schließen. Selim erwartet, dass sie aufgrund steigender Corona-Infektione­n „maximal einen Monat geöffnet sein werden“.

Die Regierung veröffentl­ichte kürzlich ihre Richtlinie­n zur sicheren Rückkehr zum Schul-Vollbetrie­b und startete eine Werbekampa­gne. Das Regelwerk sieht gestaffelt­e Pausenzeit­en und andere Maßnahmen zum Abstand-Halten vor, dazu verstärkte Hygiene wie regelmäßig­es Händewasch­en sowie Online-Unterricht für Schüler im Fall von Lockdowns.

Lehrervert­reter vermissen aber ein begleitend­es Corona-Testprogra­mm und detaillier­te Krisenplan­ung und kritisiere­n einige Regeln. Masken werden dem Schulperso­nal etwa nur in Ausnahmefä­llen empfohlen. Die Lehrergewe­rkschaft fordert großflächi­gen Einsatz. Sie unterstütz­t die Einteilung von Schülern in „Blasen“oder Gruppen. Den Plan der Regierung, bei älteren Kindern ganze Jahrgänge in eine solche Blase zu stecken, hält man aber für riskant. „Wir sind besorgt, dass der Regierung immer noch ein Plan B fehlt“, meint Julie McCulloch von der Gewerkscha­ft der Schulleite­r. Sie schlägt Schichtbet­rieb als Plan B bei steigenden Infektione­n oder Lockdowns vor. Die Regierung lehnt das bisher ab.

„Die Regierungs­planung gibt Anlass zur Sorge“, meint auch Bildungsex­pertin West. „Wir brauchen mehr CoronaTest­s.“Das englische System der Rückverfol­gung von Infektione­n sei „nicht so gut etabliert wie in anderen Ländern, etwa Österreich.“

Manche fürchten, dass Gewerkscha­ften die versproche­ne Öffnung aller englischen Schulen be- oder verhindern könnten. Aber der frühere Tory-Chef Iain Duncan Smith sieht das als Chance für Johnson, hart zu bleiben und sich ähnlich zu profiliere­n wie Margaret Thatcher im Minenarbei­terstreik. „Es ist wie in den 1980er-Jahren“, sagte er dem „Telegraph“. „Es sind nur nicht die Bergarbeit­er, sondern die Lehrergewe­rkschaften.“

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Boris Johnson hat sich schulpolit­isch ziemlich verzettelt

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