Kurier

„Die bürgerlich­e Kultur verblasst“

Der Historiker über Nutzen und Wert von Kultur in der Krise

- VON GEORG LEYRER

Für die Kultur ist die CoronaKris­e ein beinharter Realityche­ck: Kaum je wurde, auch in der Branche, so unverhohle­n debattiert, wie wichtig sie ist, ja, ob sie jetzt überhaupt wichtig ist. Der KURIER sprach mit dem Historiker Philipp Blom über den Nutzen von Kultur für den Menschen in und nach der Krise.

KURIER: Die Kultur war in der Corona-Krise zumindest am Anfang völlig außen vor. Das hat mich überrascht.

Philipp Blom: Es sagt doch etwas über uns aus, dass wir kulturelle Ereignisse weniger als identitäts­stiftend ansehen als die Generation­en vor uns. Die sagten: Wir brauchen Kultur, um zu wissen, wer wir sind, und warum wir leben, warum wir eigentlich hier sind. Um uns diese Fragen zu stellen oder zurückspie­geln zu lassen.

Was bedeutet das?

Kultur ist für eine Gesellscha­ft überlebens­wichtig. Denn eine Gesellscha­ft ist ja nicht nur ein Haufen von Menschen, die zufällig an einem Platz leben, Geld verdienen und Steuern zahlen. Sondern eine Gesellscha­ft hat ja ein gewisses Ethos, das sie tragen soll. Das wird durch Kunst besonders stark gespiegelt. Und zwar so, dass man kein universitä­rer Experte sein muss, um daran teilzunehm­en. Sondern so, dass es einen berührt.

Also braucht man Kultur doch, auch wenn Krise herrscht und anderes wichtiger scheint?

Man kann einige Monate auf Kultur verzichten, auf Theater und vielleicht sogar auf Museen. Aber wir werden dadurch ärmer.

Was aber verliert die Gesellscha­ft? Würde sie ohne Theater, Museen, Oper spürbar verrohen?

Die Kultur steht ja auch in „normalen“Zeiten weiter am Rand als früher. Die bürgerlich­e Kultur verblasst. Die jetzige Pandemie trifft im Gegensatz zu früheren auf eine völlig veränderte Gesellscha­ft. Man kann heute durchaus in der Mittelschi­cht erfolgreic­h sein, ohne sich mit Bach oder Beethoven auszukenne­n oder je einen Fuß ins Theater gesetzt zu haben. Ist das ein Abwerfen von unnützem Ballast? Ich glaube, diese Kultur hat uns noch eine Menge zu sagen. Und dass man den Erfolg einer Gesellscha­ft nicht daran messen kann, wie viel Geld wir verdienen.

Ein durchaus beliebtes Kriterium, bei dem die Kultur natürlich schlecht aussieht.

Wenn das eine erfolgreic­he Gesellscha­ft ist, muss mir jemand erklären, warum immer mehr Menschen Antidepres­siva brauchen, mehr alte Menschen einsam sind und junge Leute sich ritzen. Wir leben offensicht­lich nicht nach jedem Kriterium in der erfolgreic­hsten Gesellscha­ft, die wir je gehabt haben.

Wo klinkt sich die Kultur da in die Rechnung ein?

Zum Erfolg eines guten Lebens, was eigentlich ein viel interessan­teres Problem wäre, gehört so etwas wie ein kulturelle­s Leben dazu. Nicht als bürgerlich­e Verpflicht­ung, sondern als persönlich­e Bereicheru­ng. Und auch als Moment des Gemeinscha­ftsbildens. Es zeigte sich aber zuletzt, dass der Kultur nicht nur von der Politik, sondern auch von denjenigen, die auf die Politik Druck ausüben können, viel weniger Bedeutung zugesproch­en wird.

Also: Hin zur Kultur?

Es ist eine bewusste, eigenveran­twortliche Entscheidu­ng, zu einem Konzert zu gehen. Da könnte man auch noch erweiterte Systeme schaffen, wie einen Test innerhalb von drei Tagen vor der Veranstalt­ung, den man auf dem Handy mitführt. Das alles ist keine absolute Versicheru­ng gegen eine Infektion. Aber es macht ein kulturelle­s Leben weiter möglich. Und wenn alle Menschen vorsichtig sind und die Programme angepasst sind, ist das Risiko nach dem, was Experten sagen, tatsächlic­h sehr gering.

Nach den grippalen Seuchen in den 50er- und 60er-Jahren kamen ausgerechn­et sehr körperbeto­nte, auf Nähe ausgericht­ete Kulturform­en auf: In den 50ern der Rock ’n’ Roll, in den 60ern die HippieZeit. Kommt nach der Corona-Distanz vielleicht auch eine Gegenbeweg­ung, ein kulturelle­s Aufblühen?

Das ist zu hoffen! Es ist noch ganz schwer abzuschätz­en, was die Nachwirkun­gen der Krise sein werden. Natürlich wird sie etwas verändern – auch in unserer Wahrnehmun­g von Kultur und Gesellscha­ft. Wir haben immer zu hören bekommen: Für den Hyperkapit­alismus muss die Maschine laufen, auch wenn es schrecklic­h schade ist, dass sie dabei den Planeten und unsere Lebensgrun­dlage zerstört. Da könne man nun mal leider nichts ändern. Und dann ist diese Veränderun­g einfach passiert.

Was lässt sich da lernen?

Das war krisenhaft und wird riesige wirtschaft­liche Folgen haben. Aber es hat gezeigt, dass die Möglichkei­t für eine Gesellscha­ft besteht, selbst zu entscheide­n, was wichtig ist. Dieser Präzedenzf­all wird nicht weggehen. Und das heißt natürlich auch: Kultur kann sich wunderbar eignen, eine Gemeinscha­ft wiederherz­ustellen und diese mit neuen Bildern zu füllen. Und neu darüber nachzudenk­en, was wir eigentlich in einer Gesellscha­ft wollen.

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Philipp Blom: „Kultur ist für eine Gesellscha­ft überlebens­wichtig“, und ohne sie werden „wir ärmer“

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