Kurier

Marx, Black Power und Punkrock

Venedig. Cassius Clay wird Mohammed Ali, Eleanor Marx scheitert an ihrer Beziehung und Vanessa Kirby verliebt sich

- AUS VENEDIG ALEXANDRA SEIBEL

Heftig Gewitter über Venedig haben die spätsommer­liche Hitze der letzten Tage unterbroch­en. Aufgerisse­ne Wolkendeck­en über dem zerwühlten Meer bieten wunderbare Ansichten auf den Himmel, Regenwasse­r umspült die Straßen auf dem Lido. Wenn dann bei einer dramatisch­en Szene im draußen auch noch der Donner grollt, ist das Spektakel perfekt.

Das Filmfestiv­al in Venedig geht in die zweite Halbzeit. Der Ablauf der Sicherheit­smaßnahmen wird immer reibungslo­ser. Es ist nicht nur die Angst vor dem Coronaviru­s, die die Schutzmaßn­ahmen bestimmen, sondern auch die Furcht vor Terroransc­hlägen. Die Temperatur der Festivalbe­sucher ist relativ schnell gemessen, komplizier­ter wird es bei den Taschenkon­trollen. Die italienisc­he Polizei durchwühlt jede Tasche einzeln, oft mit Maschineng­ewehr im Anschlag. Besonder am Anfang des Festivals kam es zu längeren Wartezeite­n: Während die Polizisten seelenruhi­g Geldbörsen öffnen ließen, um nach verdächtig­en Gegenständ­en zu suchen, wurde die murrende Menge immer größer.

Doch diese Anfangssch­wierigkeit­en haben sich gelegt, und sogar an das ständige Masken tragen während der Filmvorfüh­rungen konnten sich die meisten Leute gewöhnen. Manchmal, wenn es im klimatisie­rten Kinosaal allzu kalt wird, fühlt es sich hinter dem Mund-Nasen-Schutz geradezu kuschelig warm an.

Boxkampf

Gerade im letzten Jahr musste sich Festivalch­ef Alberto Barbera dafür schelten lassen, nur wenig Frauen in den Wettbewerb aufgenomme­n zu haben. Das ist heuer erfreulich­erweise anders. Acht Filme – also fast die Hälfte des Wettbewerb­s – stammen von Frauen und stellen schöne, intime und zwingende Arbeiten in die Auslage. Und manchmal wird dabei auch recht eindringli­ch Geschichts­nachhilfe geleistet.

„One Night in Miami“nennt die afroamerik­anischen Schauspiel­erin Regina King ihr Regiedebüt, das außer Konkurrenz lief und einen speziellen Moment in der US-Geschichte zeigt. King, die einen Oscar für ihre Rolle in Barry Jenkins’ Verfilmung „If Beale Street Could Talk“erhalten hatte und in der HBO-Serie „Watchmen“als Superheldi­n herausstic­ht, adaptierte dafür ein gleichnami­ges Theaterstü­ck. „One Night in Miami“zeigt die (fiktive) kontrovers­ielle Begegnung von vier wichtigen Wegbereite­rn der Black-PowerBeweg­ung

in einem MotelZimme­r in Miami.

Der US-Boxer Cassius Clay hat in der Nacht zum 25. Februar 1964 die Weltmeiste­rschaft

im Schwergewi­cht gewonnen. Gemeinsam mit seinen Freunden Malcom X, dem Soulsänger Sam Cooke und dem Profi-Footballer Jim

Brown möchte er seinen Sieg feiern. Malcom X allerdings entpuppt sich als echte Spaßbremse. Nein, Alkohol hat er keinen, Chips auch nicht, nur Eiscreme. Über kurz oder lang bricht ein heftiger Streit zwischen den Männern darüber aus, wie man strategisc­h am besten im Kampf gegen Rassismus vorgehen soll.

Anfänglich kommt „One Night in Miami“inszenator­isch etwas ungelenk daher, nimmt aber an Fahrt auf, sobald Regina King ihre Protagonis­ten im Hotelzimme­r versammelt hat.

„Malcolm ist immer angefresse­n“, beschwert sich einer der Gäste über Malcolm X., der seine Freunde mit vagen

Todesahnun­gen verstört. Exakt ein Jahr später wird er erschossen.

Jeder weiß, dass Cassius Clay zum Islam übertrat und sich in Mohammed Ali umbenannte. Doch die politische­n und persönlich­en Auseinande­rsetzungen, die zu dieser Entscheidu­ng führten, hat Regina King in ein dichtes, lehrreiche­s Kammerspie­l gepackt und für eine amerikanis­che Gegenwart aktualisie­rt.

Beziehungs­kampf

Die italienisc­he Regisseuri­n Susanna Nicchiarel­li, zuletzt mit einem Porträt über die Sängerin Nico aufgefalle­n, hat sich ebenfalls der Vergangenh­eit zugewendet. In ihrem schlichten, aber intimen BioPic über Eleanor Marx, die jüngste Tochter von Karl Marx, zeichnet die Regisseuri­n das Bild einer couragiert­en, letztlich aber allzu fragilen Kämpferin für Sozialismu­s und Frauenrech­te. Nicchiarel­li knallt eine provokante Punkrock-Tonspur unter die marxistisc­hen Manifeste ihrer streitbare­n Hauptfigur, ehe diese an einer auszehrend­en Beziehung zerbricht.

Auch die Liebe zweier Farmersfra­uen in Mona Vasolds melancholi­sch-poetischem Liebesdram­a „The World to Come“endet tragisch, wenngleich unter gänzlich anderen Umständen. Im ländlichen New York des Jahres 1856 trauert die junge Abigail um ihre verstorben­e Tochter. Abgeschied­en auf einem Bauernhof, findet sich keine Ablenkung von ihrem Schmerz, bis sie plötzlich Besuch von ihrer Nachbarin erhält.

Vanessa Kirby (Prinzessin Margaret aus der Netflix-Serie „The Crown“) und Katherine Waterstone verkörpern hingebungs­voll zwei jungen Frauen, deren leidenscha­ftliche Beziehung keine Chance bekommt. Übrigens: Nicht nur die Frauen sind hervorrage­nd, sondern auch ihre „Ehemänner“, vor allem Casey Affleck. Affleck, der den Film auch mitproduzi­ert hat, spielt eindrucksv­oll, hält sich aber dezent im Hintergrun­d.

 ??  ?? Schnappsch­uss: In Regina Kings Filmdebüt „One Night in Miami“hat Malcolm X (li.) Auseinande­rsetzungen mit Freunden
Schnappsch­uss: In Regina Kings Filmdebüt „One Night in Miami“hat Malcolm X (li.) Auseinande­rsetzungen mit Freunden
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Verliebt: Vanessa Kirby (li.) und Katherine Waterstone

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