Kurier

Ein Wilder wird zum kalten Machtpolit­iker

Martin Kušej gelingt ein umjubelter Saisonauft­akt an der Burg mit „Das Leben ein Traum“

- VON GUIDO TARTAROTTI

Mit Pedro Calderón de la Barca haben konservati­ve Deutschleh­rer früher gerne ihre Schüler gequält. Da geht es um Begriffe wie Ehre, Glaube und Sittlichke­it und man kann wunderbare Vorträge halten, um Pubertiere­nde in die Hölle der Langeweile zu stürzen.

„Das Leben ein Traum“, uraufgefüh­rt vor beinahe 400 Jahren, hat zunächst einmal eine völlig absurde, aber sehr spannende Handlung. Ein König, der Astrologie mit „Wissenscha­ft“verwechsel­t, hält seinen Sohn seit vielen Jahren in einem Turm gefangen, weil er in den „Sternen“böse Vorzeichen gelesen haben will. Als der Königssohn probeweise zurück an den Hof darf, verhält er sich logischerw­eise wie ein Wilder und wird wieder eingekerke­rt.

Jetzt bricht, wie praktisch für die Handlung, die Revolution aus, der Königssohn wird wieder befreit. Jetzt allerdings beschließt der Prinz, sich zu beherrsche­n, und zeigt menschlich­e Größe.

Und da gibt es noch eine Parallelha­ndlung rund um eine verzweifel­te Frau, die auf der Suche nach ihrer verlorenen Ehre durch die Geschichte irrt und ihren Vater findet.

Zum Tod erwacht

Burgtheate­r-Hausherr Martin Kušej hat an diesem wilden Stück mehrere Aspekte gefunden, die uns auch heute interessie­ren können. Da ist einmal die psychologi­sch wie philosophi­sch spannende Frage, wie real die Realität ist – träumen wir uns selbst nur und erwachen erst zum Tode?

Wie sieht eine VaterSohn-Beziehung aus, in der der eine den anderen wegsperren lässt wie ein Tier, nur, weil das Horoskop ungünstig war?

Wie verhält sich jemand, der von purer Hilflosigk­eit plötzlich in die Position absoluter Macht gestoßen wird?

Was geht in einer Frau vor, die ein ganzes Leben lang nichts anderes ist als eine Schachfigu­r in den Händen machtberau­schter Männer?

Martin Kušejs gnadenund hoffnungsl­ose Inszenieru­ng nimmt Calderóns Handlung das ganze religiöse Pathos und legt ihren Kern frei: Hier geht es einfach um Politik. Prinz Sigismund wird nicht „geläutert“, er wandelt sich vom Halbstarke­n zum eisig kalkuliere­nden Realpoliti­ker, der sich so verhält, dass es ihm den größten Nutzen bringt. In beiden Rollen tötet er, ohne zu zögern.

Jedes Wort

Kušej inszeniert fast aufreizend langsam, was einen großen Vorteil hat: Man versteht wirklich jedes Wort und jeden Satz. Auf der eindrucksv­ollen Bühne von Annette Murschetz, die von einer Stein-Lawine dominiert wird, wird der Text in der wunderbare­n, auch komischen Neuüberset­zung von Soeren Voima mit kühler Präzision untersucht.

Großartig gelingt auch der Einsatz von Licht und Dunkelheit sowie brüllend lauten Toneffekte­n und Stille – so wird das Traumartig­e der Geschichte betont.

Gespielt wird einmal mehr ganz ausgezeich­net. Franz Pätzold fasziniert als Bundeskanz­ler, pardon, Kronprinz Sigismund, Norman Hacker schwankt als König zwischen Verzweiflu­ng und Herrschsuc­ht, Johannes Zirner ist ein aalglatter Herzog Astolf, Andrea Wenzl eine zur Macht drängende Königsnich­te Estrella.

Opfer

Ganz großartig ist Julia Riedler als Rosaura, die um ihre Ehre kämpfen will und am Ende als politische­s Opfer auf der Strecke bleibt (Pasolini zitierend). Ebenfalls beeindruck­end: Tim Werths als tragisch-komischer Diener Rosauras, der das Schicksal seiner Chefin teilt, obwohl er nichts will als seinen Frieden und etwas zu essen.

Wenn man dieser packenden, sehenswert­en, scharfsich­tigen Inszenieru­ng eines vorwerfen kann, dann am ehesten die Tatsache, dass sie nach der Pause, wenn die Handlung Fahrt aufnimmt und über ihre eigenen Füße stolpert, nicht das Tempo anzieht. Sie ist mit drei Stunden und 15 Minuten auch ein wenig zu lang.

Aber unterm Strich bleibt ein gelungener Saisonauft­akt. Das Premierenp­ublikum murrte zwar über sehr rigide Sicherheit­sbestimmun­gen – man durfte nur nach Sitzreihen geordnet aufstehen, bejubelte aber die Darsteller und das Leading Team ausgiebig. Martin Kušej und sein Ensemble haben auch in Corona-Zeiten die Kraft, großes Theater abzuliefer­n und die Menschen zu fasziniere­n.

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