Kurier

Das Dilemma und die harten Worte

- VON RICHARD GRASL

Ab und zu ist Offenheit in der Politik wohltuend. Dass eine Politikeri­n live im TV zugibt, dass sie moralisch vor einem unlösbaren Dilemma stehe, kommt jedoch selten vor. Der damalige SPÖ-Kanzler Werner Faymann musste einen Grenzzaun zum „Türl mit Seitenteil­en“erklären, weil er nicht zugeben wollte, dass er zwischen den Flügeln in der SPÖ und der ÖVP zerrieben wurde. Am Sonntag plauderte nun die grüne Klubobfrau Sigrid Maurer offen aus, wie sich so ein Dilemma für sie und ihre Abgeordnet­en anfühlt. Sie meinte, dass die Grünen den rot-pinken Anträgen zur Aufnahme von Moria-Flüchtling­en ja zustimmen könnten, dann käme halt ein türkis-blauer Aufnahmest­opp. Unbegleite­te Kinder aus Moria würden nicht nach Österreich kommen. So oder so nicht.

Soll man etwas gegen seinen Willen tun, wenn es einem, wie Maurer sagt, „dabei das Herz zerreißt“, nur weil die Alternativ­e noch schlimmer wäre (eine Frage der normativen Ethik)? Oder geht es den Grünen um Machterhal­t, weil sie wissen, dass 90 Prozent ihrer Wähler wollen, dass Grüne regieren und nicht die Opposition­sbank drücken (politische­r Pragmatism­us)? Es stimmt wohl beides.

Bei der Wortwahl der Kanzlerpar­tei ÖVP ist vielen grünen Funktionär­en zu Recht der Kragen geplatzt. Der Wunsch nach Aufnahme unbegleite­ter Kinder wurde als „Geschrei“verunglimp­ft (Schallenbe­rg), der Innenminis­ter will gleich „Flüchtling­e von Traiskirch­en nach Wien“schicken. Die Grünen haben rhetorisch zwar nicht den ersten Stein geworfen, schossen aber reflexarti­g zurück. Doch zum Koalitions­krach reichte das nicht.

Denn in der Sache war auch der grünen Spitze klar, dass Sebastian Kurz keinen Millimeter von seinem Erfolgsrez­ept abrücken und einen neuen Zuzug zulassen würde. Dafür wurde eigens im Koalitions­vertrag eine Regelung fixiert, dass ÖVP und Grüne einander auch überstimme­n dürfen, ohne Koalitions­bruch zu begehen. Die restriktiv­e Zuwanderun­gspolitik ist dort ausdrückli­ch festgelegt. Für Kurz hätte die Aufnahme bedeutet, dass bald viele Flüchtling­slager brennen würden, um Zugang zu den reicheren EU-Ländern zu erzwingen, was die Gefahr neuer Flüchtling­sströme erhöhen würde. Für ihn war es kein singulärer Einzelfall für humanitäre Hilfe, er sah seine gesamte Flüchtling­spolitik in Gefahr. Dass das kleine Österreich nun kurzfristi­g für 2.000 Menschen auf Lesbos winterfest­e Quartiere baut, ist mehr, als viele andere EU-Staaten tun, die eine Handvoll Flüchtling­e zu sich holen und so tun, als würden sie das Problem damit lösen.

Türkis und Grün werden noch vor vielen Dilemmata stehen: beim Klimaschut­z, bei den Transparen­zregeln, vor allem aber in der Corona-Krise samt Ampel-Schaltunge­n und persönlich­en Einschränk­ungen. Gerade hier werden wir viele ethische Fragen zu beurteilen haben – und hoffentlic­h nach der Wien-Wahl ohne rhetorisch­e Überprofil­ierung.

Bei der Wortwahl ist vielen Grünen zu Recht der Kragen geplatzt, aber es war klar, dass Kurz in der Migrations­frage hart bleibt

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