Kurier

Österreich bleibt Österreich

Was muss noch alles passieren, dass wir endlich ideologisc­he Gräben überwinden und aus alten Denkmuster­n ausbrechen können?

- VON GERT KORENTSCHN­IG gert.korentschn­ig@kurier.at

„Schleich di, du Oaschloch!“, rief ein Wiener dem Terroriste­n hinterher – lesen Sie bitte dazu auch den fabelhafte­n Text, den der Schriftste­ller Michael Köhlmeier für den KURIER am Sonntag verfasst hat. „Schleich di!“, das möchte man auch dem Jahr 2020 hinterherr­ufen. Corona- und Wirtschaft­skrise, Rekordarbe­itslosigke­it, Ausgangsbe­schränkung­en, Angst in der Bevölkerun­g und dann noch Terror in Wien – es reicht!

Komm doch, liebes 21er-Jahr, wir freuen uns auf dich. Spätestens am 20. Jänner beginnt dann eine neue Zeitrechnu­ng, wenn ein seriöser Mann als US-Präsident angelobt wird, wenn die Jahre der Lügen, der Drohungen, des Misstrauen­s gegenüber staatliche­n Institutio­nen, der Aushöhlung der Demokratie vorbei sind. Höchste Zeit für eine Ruhepause, wahrschein­lich ist „sleepy Joe“sogar der Richtige dafür.

Aber bleiben wir in Österreich, das in dieser Woche erschütter­t wurde wie selten zuvor, und wo die Gräben auch schon beachtlich­e Ausmaße erreicht haben. Auf dem Cover der Sonntags-Zeitung bringen wir diesmal den Titel „Wien bleibt Wien“, in Anbetracht dessen, dass sich die Stadt nicht unterkrieg­en lässt, auch in ihrer Vielfalt. Portiere ließen flüchtende Menschen in ihren Hotels übernachte­n, Menschen mit Migrations­hintergrun­d wurden zu Lebensrett­ern. Am Tag nach dem Anschlag sprach der Kanzler wichtige Worte, dass es nämlich nicht um Religionen, sondern um Frieden versus Krieg gehe. Und auch der Innenminis­ter berührte mit topprofess­ionellen Stellungna­hmen. Allerdings: Nicht nur Wien bleibt Wien, auch Österreich bleibt Österreich, denn schon kurz darauf war nicht mehr ein Miteinande­r, sondern nur noch ein Gegeneinan­der bei der Krisenbewä­ltigung zu registrier­en.

Ja, es wurden schrecklic­he Fehler im Vorfeld des Anschlages begangen, es wurde weggeschau­t, Kommunikat­ion verabsäumt, Gefahren wurden ignoriert, und in anderen Ländern wären die politisch Verantwort­lichen ihren Job vermutlich los. Dennoch ist es bemerkensw­ert, wie sehr die österreich­ischen Bruchlinie­n – rechts gegen links, Regierung gegen Opposition, Innenminis­terium gegen Justizmini­sterium, Bund gegen Stadt Wien – sofort wieder sichtbar wurden. Misstrauen, Verbitteru­ng, ja sogar Hass auf den Andersdenk­en sind so groß, dass Schuldzuwe­isungen und das Bedienen der eigenen Klientel wichtiger sind als Zusammenha­lt. Das geht so weit, dass ein ehemaliger Innenminis­ter die Kranzniede­rlegung für eine politische Botschaft nützt, indem er als Einziger keine Maske trägt.

Ja, Corona und Terror haben etwas gemein: In beiden Fällen sieht man, wie schwierig es hier mit dem oft postuliert­en Schultersc­hluss ist. Und wie sehr Minutendeb­atten ernsthafte Diskussion­en verdrängen. Wahrschein­lich war es früher nicht besser. Aber ohne Social Media zumindest weniger laut.

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