Johnson-Verlobte gegen die Brexit-Boys von Premier Boris
Machtkampf in Downing Street 10
Wer am Donnerstag britische Medien verfolgte, konnte fast glauben, dass das große Brexit-Theater über ein EU-Freihandelsabkommen nicht im letzten Akt, sondern gerade in der Pause ist. In der Pause eines Stückes, das da lauten könnte: Carries Crew gegen Boris’ Brexit Boys. Schauplatz der Polit-Soap-Opera: Die Londoner Downing Street 10, Sitz von Premier Johnson.
Denn als Lee Cain, der 39jährige Kommunikationschef von Boris Johnson, nun seinen Rücktritt zum Jahresende ohne Angabe von Gründen ankündigte, schlug das ein wie eine Bombe. Nur Stunden zuvor hatte es geheißen, der enge Vertraute von JohnsonChefberater Dominic Cummings könnte zum Stabschef befördert werden. Das stieß aber bei manchen in der Konservativen Partei und Regierung auf Buhrufe und auf den Widerstand von Johnsons Verlobter Carrie Symonds.
Der Daily Telegraph sprach von einer Symonds„Revolte“und ihrem „Veto“.
Politico schrieb, die BrexitHardliner in Johnsons innerem Kreis hätten nach Wochen der Zwietracht hinter den Kulissen „die Kontrolle verloren“. In dem Machtkampf, für den der Streit über Cains Zukunft zum Kristallisationspunkt wurde, stehen sie einem Chor von lauter gewordenen, auch weiblichen, Stimmen gegenüber, der nach diversen Corona-Pannen der Regierung einen Neustart fordert.
Symonds, 32, die als PRBeraterin sonst zur Rettung der Weltmeere aufruft, aber als frühere Kommunikationschefin der Konservativen gut vernetzt ist, scheint ihrem Partner eingeflüstert zu haben, um ihn aus ihrer Sicht vor einem „Fehler“zu retten, der sie „zutiefst unglücklich“gemacht hätte, wie berichtet wurde. Sie und der als streitsüchtig geltende Cain – der sich als Daily Mirror-Journalist einst als Huhn verkleidete, um Premier David Cameron zu verspotten, bevor er für die Brexit-Kampagne „Vote Leave“arbeitete – waren bereits in der Vergangenheit aneinander geraten, hieß es.
Frauen-Power
Auch Allegra Stratton, Johnsons neues Gesicht für geplante tägliche TV-Pressekonferenzen, nach deren Ernennung Cain offenbar um seinen Einfluss fürchtete, und Planungsabteilung-Leiterin Munira Mirza wehrten sich gegen den Aufstieg des Kommunikationschefs. Denn Kommunikation, inklusive peinlicher Kehrtwenden, hat sich in der CoronaKrise als Achillesferse der Regierung entpuppt.
Die Soap hätte fast einen weiteren Höhepunkt erreicht. Johnson-Darlings Cummings, die graue Eminenz Londons, und Brexit-Verhandler David Frost überlegten laut Berichten auch den Abtritt, bleiben aber vorerst doch auf der politischen Bühne. Viele erwarten, dass sich die Brexit-Boyband um einen neuen Hit bemühen wird, um das Ohr des Premiers nicht ganz an andere zu verlieren.
Viele sehen den Rosenkrieg zwischen verschiedenen Faktionen aber als Chance einer Neuinszenierung bevor der Vorhang für die Regierung Johnson fällt. Sein Team steht seit Langem in der Kritik, nicht genug Frauenpower zu haben. Und der einflussreiche Tory-Hinterbänkler Charles Walker sagte, Parlamentarier hegen „schon länger Unzufriedenheit“, weil sie sich oft von Entscheidungen ausgeschlossen fühlten.
Pete Wishart von der Schottischen Nationalpartei kritisierte alle Mitwirkenden und beschrieb das Regierungs-Kasperltheater so: „Gesichtslose Charaktere, die dieses Land von Downing Street aus regieren, gehen sich an die Gurgel“.
Ausnahmezustand. Seit 4. November gilt in Ungarn erneut der Ausnahmezustand. Am vergangenen Dienstag hat sich die Regierung vom Parlament die Ermächtigung geholt, zur Bekämpfung der Pandemie per Dekret regieren zu dürfen – wie schon im März. Diesmal gilt die Sonderregelung nicht auf unbestimmte Zeit (was im März heftig kritisiert worden war), sondern für 90 Tage.
Bereits jetzt liegen Dutzende Vorschläge der Regierung für Gesetzesänderungen vor: ein vorübergehendes Demonstrationsverbot, eine neue Definition von „öffentlichen Geldern“(was in den Augen der NGO Freedom House die Transparenz verschlechtert) und nicht zuletzt eine Änderung des Wahlrechts: Die neuen Regelungen erschweren es der Opposition, sich vor der Wahl 2022 zusammenzuschließen, um stärker gegen die übermächtige Regierungspartei Fidesz anzutreten. Gemeinsame Listen, so der Änderungsvorschlag, müssen mindestens in 50 der 106 Wahlkreise antreten (statt bisher in 27).
Kein Zusammenhang
Ungarn kämpft, wie die meisten europäischen Staaten, mit der Coronavirus-Pandemie. Bei knapp 10 Millionen Einwohnern sind derzeit 126.790 Menschen wissentlich mit dem Virus infiziert. 34.040 sind zur Heimquarantäne verpflichtet, das Land zählt mittlerweile 2.784 Corona-Tote. Der Ausnahmezustand und das Regieren per Dekret seien daher zwingend notwendig, so die Regierung. Doch viele der Gesetzesvorhaben und Verfassungsänderungen lassen den Zusammenhang mit der Pandemie missen. Das kritisiert auch Dániel Karsai, Verfassungsrechtsexperte aus Ungarn. „Alle Maßnahmen für die Pandemie – bis auf einen Lockdown – könnten auch unter normalen Umständen eingeführt werden.“
Zusätzlich plant die Regierung Verfassungsänderungen. Etwa diesen Gesetzeszusatz: „Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.“Ziel: Alleinerzieher und gleichgeschlechtliche Paare sollen keine Kinder adoptieren.
Das ist nur eine von mehreren Verfassungsänderungen, die die Regierung plant. Zum neunten Mal innerhalb von neun Jahren sind in Ungarn offenbar Änderungen im Grundgesetz notwendig. Das wundert nicht nur Juristen.
„It’s the rule of law, stupid“, twitterte die ungarische Journalistin Katalin Halmai. Sie vermutet, dass die juristische Keule vor allem auch ein Signal an die EU ist. Denn gerade diese Woche hatten sich EU-Parlament und Rat auf ein Finanzpaket für die kommenden sieben Jahre geeinigt. Darin enthalten: eine Klausel, die besagt, dass Brüssel die Zahlungen an ein Mitgliedsland einfrieren könne, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vorlägen. Der ungarischen Regierung gefällt das nicht, sie hat angekündigt, das Vorhaben zu blockieren.
Die Gesetzesänderungen, über die jetzt alle sprechen, könnten aber auch ein Ablenkungsmanöver sein, spekuliert Dániel Karsai: „Verfassungsänderungen im Ausnahmezustand? Wirklich? Alle reden jetzt darüber. Niemand über die Corona-Politik der Regierung. Die bis jetzt nicht besonders erfolgreich war.“