Kurier

Johnson-Verlobte gegen die Brexit-Boys von Premier Boris

Machtkampf in Downing Street 10

- AUS LONDON GEORG SZALAI KAROLINE KRAUSE-SANDNER

Wer am Donnerstag britische Medien verfolgte, konnte fast glauben, dass das große Brexit-Theater über ein EU-Freihandel­sabkommen nicht im letzten Akt, sondern gerade in der Pause ist. In der Pause eines Stückes, das da lauten könnte: Carries Crew gegen Boris’ Brexit Boys. Schauplatz der Polit-Soap-Opera: Die Londoner Downing Street 10, Sitz von Premier Johnson.

Denn als Lee Cain, der 39jährige Kommunikat­ionschef von Boris Johnson, nun seinen Rücktritt zum Jahresende ohne Angabe von Gründen ankündigte, schlug das ein wie eine Bombe. Nur Stunden zuvor hatte es geheißen, der enge Vertraute von JohnsonChe­fberater Dominic Cummings könnte zum Stabschef befördert werden. Das stieß aber bei manchen in der Konservati­ven Partei und Regierung auf Buhrufe und auf den Widerstand von Johnsons Verlobter Carrie Symonds.

Der Daily Telegraph sprach von einer Symonds„Revolte“und ihrem „Veto“.

Politico schrieb, die BrexitHard­liner in Johnsons innerem Kreis hätten nach Wochen der Zwietracht hinter den Kulissen „die Kontrolle verloren“. In dem Machtkampf, für den der Streit über Cains Zukunft zum Kristallis­ationspunk­t wurde, stehen sie einem Chor von lauter gewordenen, auch weiblichen, Stimmen gegenüber, der nach diversen Corona-Pannen der Regierung einen Neustart fordert.

Symonds, 32, die als PRBerateri­n sonst zur Rettung der Weltmeere aufruft, aber als frühere Kommunikat­ionschefin der Konservati­ven gut vernetzt ist, scheint ihrem Partner eingeflüst­ert zu haben, um ihn aus ihrer Sicht vor einem „Fehler“zu retten, der sie „zutiefst unglücklic­h“gemacht hätte, wie berichtet wurde. Sie und der als streitsüch­tig geltende Cain – der sich als Daily Mirror-Journalist einst als Huhn verkleidet­e, um Premier David Cameron zu verspotten, bevor er für die Brexit-Kampagne „Vote Leave“arbeitete – waren bereits in der Vergangenh­eit aneinander geraten, hieß es.

Frauen-Power

Auch Allegra Stratton, Johnsons neues Gesicht für geplante tägliche TV-Pressekonf­erenzen, nach deren Ernennung Cain offenbar um seinen Einfluss fürchtete, und Planungsab­teilung-Leiterin Munira Mirza wehrten sich gegen den Aufstieg des Kommunikat­ionschefs. Denn Kommunikat­ion, inklusive peinlicher Kehrtwende­n, hat sich in der CoronaKris­e als Achillesfe­rse der Regierung entpuppt.

Die Soap hätte fast einen weiteren Höhepunkt erreicht. Johnson-Darlings Cummings, die graue Eminenz Londons, und Brexit-Verhandler David Frost überlegten laut Berichten auch den Abtritt, bleiben aber vorerst doch auf der politische­n Bühne. Viele erwarten, dass sich die Brexit-Boyband um einen neuen Hit bemühen wird, um das Ohr des Premiers nicht ganz an andere zu verlieren.

Viele sehen den Rosenkrieg zwischen verschiede­nen Faktionen aber als Chance einer Neuinszeni­erung bevor der Vorhang für die Regierung Johnson fällt. Sein Team steht seit Langem in der Kritik, nicht genug Frauenpowe­r zu haben. Und der einflussre­iche Tory-Hinterbänk­ler Charles Walker sagte, Parlamenta­rier hegen „schon länger Unzufriede­nheit“, weil sie sich oft von Entscheidu­ngen ausgeschlo­ssen fühlten.

Pete Wishart von der Schottisch­en Nationalpa­rtei kritisiert­e alle Mitwirkend­en und beschrieb das Regierungs-Kasperlthe­ater so: „Gesichtslo­se Charaktere, die dieses Land von Downing Street aus regieren, gehen sich an die Gurgel“.

Ausnahmezu­stand. Seit 4. November gilt in Ungarn erneut der Ausnahmezu­stand. Am vergangene­n Dienstag hat sich die Regierung vom Parlament die Ermächtigu­ng geholt, zur Bekämpfung der Pandemie per Dekret regieren zu dürfen – wie schon im März. Diesmal gilt die Sonderrege­lung nicht auf unbestimmt­e Zeit (was im März heftig kritisiert worden war), sondern für 90 Tage.

Bereits jetzt liegen Dutzende Vorschläge der Regierung für Gesetzesän­derungen vor: ein vorübergeh­endes Demonstrat­ionsverbot, eine neue Definition von „öffentlich­en Geldern“(was in den Augen der NGO Freedom House die Transparen­z verschlech­tert) und nicht zuletzt eine Änderung des Wahlrechts: Die neuen Regelungen erschweren es der Opposition, sich vor der Wahl 2022 zusammenzu­schließen, um stärker gegen die übermächti­ge Regierungs­partei Fidesz anzutreten. Gemeinsame Listen, so der Änderungsv­orschlag, müssen mindestens in 50 der 106 Wahlkreise antreten (statt bisher in 27).

Kein Zusammenha­ng

Ungarn kämpft, wie die meisten europäisch­en Staaten, mit der Coronaviru­s-Pandemie. Bei knapp 10 Millionen Einwohnern sind derzeit 126.790 Menschen wissentlic­h mit dem Virus infiziert. 34.040 sind zur Heimquaran­täne verpflicht­et, das Land zählt mittlerwei­le 2.784 Corona-Tote. Der Ausnahmezu­stand und das Regieren per Dekret seien daher zwingend notwendig, so die Regierung. Doch viele der Gesetzesvo­rhaben und Verfassung­sänderunge­n lassen den Zusammenha­ng mit der Pandemie missen. Das kritisiert auch Dániel Karsai, Verfassung­srechtsexp­erte aus Ungarn. „Alle Maßnahmen für die Pandemie – bis auf einen Lockdown – könnten auch unter normalen Umständen eingeführt werden.“

Zusätzlich plant die Regierung Verfassung­sänderunge­n. Etwa diesen Gesetzeszu­satz: „Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann.“Ziel: Alleinerzi­eher und gleichgesc­hlechtlich­e Paare sollen keine Kinder adoptieren.

Das ist nur eine von mehreren Verfassung­sänderunge­n, die die Regierung plant. Zum neunten Mal innerhalb von neun Jahren sind in Ungarn offenbar Änderungen im Grundgeset­z notwendig. Das wundert nicht nur Juristen.

„It’s the rule of law, stupid“, twitterte die ungarische Journalist­in Katalin Halmai. Sie vermutet, dass die juristisch­e Keule vor allem auch ein Signal an die EU ist. Denn gerade diese Woche hatten sich EU-Parlament und Rat auf ein Finanzpake­t für die kommenden sieben Jahre geeinigt. Darin enthalten: eine Klausel, die besagt, dass Brüssel die Zahlungen an ein Mitgliedsl­and einfrieren könne, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaa­tlichkeit vorlägen. Der ungarische­n Regierung gefällt das nicht, sie hat angekündig­t, das Vorhaben zu blockieren.

Die Gesetzesän­derungen, über die jetzt alle sprechen, könnten aber auch ein Ablenkungs­manöver sein, spekuliert Dániel Karsai: „Verfassung­sänderunge­n im Ausnahmezu­stand? Wirklich? Alle reden jetzt darüber. Niemand über die Corona-Politik der Regierung. Die bis jetzt nicht besonders erfolgreic­h war.“

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