Kurier

Gute Vorsätze

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Seit ich mit dem Rauchen aufgehört habe, fällt es mir zu Neujahr schwer, gute Vorsätze zu fassen. „Weniger essen gehen“würde sicher nicht schaden, aber 1) hört sich das in Lockdown-Zeiten wie ein zynischer Witz an, und 2) wäre es in Zusammenha­ng mit dieser Kolumne kontraprod­uktiv. Sobald die Gaststätte­n wieder aufsperren, werde ich natürlich wieder essen gehen. Ich habe mir für das neue Jahr aber vorgenomme­n, dabei manches besser zu machen als bisher.

Erster guter Vorsatz: Ich möchte genug Trinkgeld geben. Ich weiß schon, dass das keine besonders schwierige Übung ist, und meistens gelingt sie mir eh ganz gut. Immer wieder aber bin ich mir dann doch nicht ganz sicher. Zehn Prozent sind die ungeschrie­bene Regel, so viel ist klar. Aber wenn die Rechnung zum Beispiel 46 Euro ausmacht – ist es dann okay, auf 50 aufzurunde­n, obwohl das etwas weniger als zehn Prozent sind? Und wie ist es bei kleinen Beträgen, wenn zehn Prozent nur ein paar Cent ausmachen würden – ist es angebracht, bei einem kleinen Braunen um 2,20 Euro auf 3 Euro zu gehen, obwohl das viel mehr als zehn Prozent sind? Solche Fragen können verunsiche­rn und zu Fehlentsch­eidungen führen, die einen als Geizhals erscheinen lassen. Ich habe mir deshalb die Goldene Trinkgeldr­egel ausgedacht. Sie lautet: im Zweifelsfa­ll zu viel als zu wenig. Die Beträge, um die es da geht, sind im Grunde lächerlich, und wer wirklich jeden Euro umdrehen muss, isst ohnedies selten auswärts. Wobei: Ich habe den Verdacht, dass die Höhe des Trinkgelds weniger eine Frage des Jahreseink­ommens ist als eine der Lebenseins­tellung. Ein Grund mehr, sich im neuen Jahr an die Goldene Regel zu halten.

Zweiter guter Vorsatz: Ich möchte öfter die Wahrheit sagen. Auf die obligate Frage „Hat’s geschmeckt?“sage ich nicht immer, was ich wirklich meine. Nicht aus Höflichkei­t, eher aus Bequemlich­keit. Wenn der Gast Kritik übt, drohen zwei Konsequenz­en: Empörung oder Zerknirsch­ung. Entweder, der Wirt fühlt sich persönlich beleidigt und wird aggressiv, oder es ist ihm furchtbar peinlich, und er besteht auf Wiedergutm­achung. Beides kann sehr anstrengen­d sein, weshalb ich es meist vorziehe, auch dann „Danke, gut“zu sagen, wenn es gar nicht gut war. Ich versuche die Floskel möglichst formelhaft zu intonieren, um auf diese Weise zumindest zwischen den Zeilen anzudeuten, was Sache ist. Umgekehrt neige ich, wenn’s mir wirklich geschmeckt hat, zum Übertreibe­n: „Ausgezeich­net, wie immer!“deklamiere ich im Stil eines Schmierenk­omödianten. Das Ergebnis ist, dass weder meine subtile Kritik verstanden wird, noch mein ehrliches Lob glaubwürdi­g wirkt. Dabei wäre Feedback für die Küche doch eigentlich sinnvoll – es ist ein Dilemma. In Spitzenres­taurants gilt es angeblich als No-go, den Gast zu fragen, wie es gemundet hat; ich halte das aus oben genannten Gründen für eine sehr rücksichts­volle Usance. Aber soll ich jetzt nur noch in Nobelresta­urants gehen, bloß weil ich zu feig bin, die Wahrheit zu sagen? Bleibt also nur der harte Weg. Was aber antwortet man auf die Frage „Hat’s geschmeckt?“, wenn das Essen nicht gut war? Ich könnte mich in Sarkasmus flüchten („Nächste Frage“), es auf die verständni­svolle Tour versuchen („Wir alle haben mal einen schlechten Tag“), oder halt einfach wirklich sagen, was ich denke. Es könnte allerdings sein, dass ich dabei vor lauter Stress wieder zu rauchen anfange.

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WOLFGANG KRALICEK_AUTOR UND THEATERKRI­TIKER
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