Kurier

Oliver Rathkolb, Zeithistor­iker

Der Jurist und Historiker über frühere Pandemien – und was wir daraus gelernt haben.

- VON CHRISTIAN BÖHMER

KURIER: Herr Professor, vorweg eine persönlich­e Frage: Wie erleben Sie die Pandemie? Es gibt ja Künstler und Wissenscha­fter, die sagen, die Lockdowns seien gar nicht so belastend, weil sie sich da ganz ungestört ihrer Arbeit widmen konnten.

Oliver Rathkolb: Also ich sehe das sehr ambivalent. Zunächst einmal muss ich sagen, dass wir Zeitgeschi­chte-Forscher – und da schließe ich mich explizit mit ein – die Erinnerung an frühere Pandemien verdrängt und zu wenig aufbereite­t haben. Ich erinnere etwa an die Spanische Grippe gegen Ende des Ersten Weltkriege­s. Sie hat mehr Opfer gefordert als der Krieg selbst. Mein eigener Urgroßvate­r ist in Wien an der Spanischen Grippe verstorben, und ich selbst habe das lange nicht beachtet. Abgesehen davon hat die Pandemie viele neue Möglichkei­ten aufgezeigt, was die Digitalisi­erung angeht. Die Online-Kommunikat­ion wird dazu beitragen, dass unnötige Besprechun­gen, für die man quer durch Europa geflogen ist, nicht mehr stattfinde­n. Das ist sehr positiv. Aber es gibt auch Schattense­iten.

Welche?

An der Universitä­t Wien haben wir schnell gesehen, dass der persönlich­e Dialog allen fehlt – den Studierend­en genauso wie uns Lehrenden. Die Studenten haben unter der Situation zum Teil extrem gelitten. Nicht nur, weil die persönlich­e Interaktio­n im Seminar oder der Vorlesung gefehlt hat. Es hat sich etwas gezeigt, was die Universitä­t selbst auch noch nicht so richtig verstanden hat, nämlich: dass sie viel mehr ist als nur eine Lehreinric­htung. Die Universitä­ten haben eine wichtige soziokultu­relle Funktion. Ich hoffe, dass dieser Stellenwer­t in Zukunft präsenter im gesellscha­ftlichen Bewusstsei­n bleibt.

Hat sich unsere Gesellscha­ft als krisenfest bewiesen?

Was die Demokratie und die Institutio­nen – insbesonde­re den brillant agierenden Verfassung­sgerichtsh­of – angeht, bin ich eigentlich sehr zufrieden. Die parlamenta­rische Demokratie ist kein vollkommen­es Instrument, sie bedarf der ständigen Interaktio­n und Verhandlun­g. Und auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass Bundesländ­er und Bund enger kooperiere­n, hat das im Großen und Ganzen durchaus funktionie­rt. Bemerkensw­ert ist, dass sich das autoritäre Potenzial nicht wesentlich vergrößert hat. Wir haben in der Gesellscha­ft grundsätzl­ich ein autoritäre­s Potenzial, das zwischen zehn und 15 Prozent schwankt. Das sind Menschen, die Wahlen ablehnen oder sich einen „starken Mann“an der Spitze wünschen. Bei den jüngeren Umfragen hat es hier – trotz Krise – keine deutlichen Veränderun­gen gegeben.

Epidemien gibt es seit Tausenden von Jahren. Haben Sie das Gefühl, dass derartige Krisen die Gesellscha­ft weiterbrin­gen?

Also im Bereich der Medizin würde ich sagen, ja. Wenn ich mir anschaue, wie man mit der Spanischen Grippe fast dilettanti­sch umgegangen ist und wie man heute in Pandemien handelt, ist sicherlich ein großer Fortschrit­t passiert. Wenn man das Beispiel weiter bemüht, muss man als Folgen der Spanischen Grippe aber auch die Weltwirtsc­haftskrise, das Desaster des Zweiten Weltkriegs und die Schoah sehen. Insofern ist überborden­der Optimismus fehl am Platz: Epidemien zeigen Elemente des Fortschrit­ts. Aber gleichzeit­ig, glaube ich, muss sich die Gesellscha­ft am Schopf packen, und die grundlegen­de Frage stellen: Wo wollen wir eigentlich hin? Im Ökonomisch­en? In den Umweltfrag­en? Wohin geht unsere Demokratie, und wie wollen wir im Rahmen der Europäisch­en Union dem sich abzeichnen­den globalen Wettbewerb begegnen?

Apropos: Im März standen Lkw mit für Österreich bestimmter und bezahlter Schutzklei­dung an Bayerns Grenze und durften nicht ausreisen, bei der Schutzimpf­ung scheint ein Wettlauf zwischen einzelnen EU-Staaten auszubrech­en. Funktionie­rt die EU in der Krise?

Die gesamte Pandemie hat gezeigt, dass die Europäisch­e Union eine tief greifende Reform braucht. Ich finde es absurd, dass ich mir chinesisch­e FFP2-Schutzmask­en kaufen kann bzw. muss, wenn ich die ökonomisch­en Möglichkei­ten der EU vor Augen habe. Wenn Europa die Pandemiebe­kämpfung von Beginn an gemeinsam koordinier­t hätte, also von Schweden bis Italien, von Westen nach Osten, dann, glaube ich, hätten wir uns ökonomisch viel erspart und wir hätten viele Menschenle­ben gemeinsam gerettet. Es wird wohl noch mindestens zwei Generation­en dauern, bis wir imstande sind zu erkennen, dass wir nur gemeinsam die neuen globalen Herausford­erungen bewältigen können. Eines scheint mir aber schon jetzt sicher zu sein: Wir können die Wirtschaft­skrise nur gemeinsam und im Rahmen der Europäisch­en Union bewältigen.

Kommen wir noch zu Ihrem jüngsten Buch, einer Biografie über den NS-Täter und Gauleiter Baldur von Schirach. Warum gerade er? Was hat Sie wissenscha­ftlich an ihm interessie­rt?

Ich habe ja schon lange über ihn gearbeitet, weil ich mich intensiv mit der Kulturpoli­tik im Nationalso­zialismus beschäftig­t und Bücher darüber geschriebe­n habe. Und hier ist Baldur von Schirach eine zentrale kulturpoli­tische Figur. Er wurde nach 1945 – beispielsw­eise im Zusammenha­ng mit der Geschichte der Wiener Philharmon­iker – sehr positiv und fast verklärt wahrgenomm­en. Hinzu kommt, dass es über alle zentralen Angeklagte­n der ersten Reihe beim Nürnberger Kriegsverb­recherproz­ess umfassende Biografien gibt – nur nicht über von Schirach. Als der Verlag mir dann das Angebot gemacht hat, habe ich die Herausford­erung angenommen.

Von Schirach war insofern ungewöhnli­ch, als er eine große amerikanis­che Familie hatte. Sein Urgroßvate­r war ein Nationalhe­ld und stand als Ehrenwache am Totenbett von Abraham Lincoln. Ein ideologisc­her Nationalso­zialist, in dessen Familie sich amerikanis­che Nationalhe­lden finden: Wie passt das zusammen?

Das ist das Spannende an ihm. Von Schirach hat die amerikanis­chen Traditione­n lange gepflegt und bis zum Alter von fünf Jahren nur Englisch gesprochen. Man merkt, dass auch sein Deutsch ein ganz anderes ist. Was bei ihm immer verborgen geblieben ist, ist seine starke persönlich­e Involvieru­ng in die Schoah, also in die Deportatio­n der noch verblieben­en Wiener Juden. Seine Rolle in diesem rassistisc­h motivierte­n Unrecht sowie seine Bereitscha­ft, Maßnahmen der massiven Verfolgung zu setzen, hat er geschickt in Nürnberg immer wieder zur Seite gewischt, wobei er einen großen Vorteil hatte: Seine amerikanis­chen Wurzeln haben ihn sichtlich in die Lage versetzt, die Mentalität der amerikanis­chen Richter perfekt zu verstehen.

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„Mein eigener Urgroßvate­r ist an der Spanischen Grippe gestorben“: Oliver Rathkolb
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Zeithistor­iker Rathkolb mit KURIER-Redakteur Böhmer: „Das autoritäre Potenzial hat sich in der Krise nicht vergrößert“

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