Kurier

Grassieren­de Gewissensb­isse

Corona-Infizierte plagen oft Schuldgefü­hle – durch Gespräche können sie sich verflüchti­gen

- VON MARLENE PATSALIDIS

Fieber, Husten und Gliedersch­merzen fesselten Kristina Gregory vor einigen Wochen fest ans Bett. Familie und Freunden musste ihr Lebensgefä­hrte von ihrer Corona-Infektion berichten, erinnert sich die USAmerikan­erin im Gespräch mit der Gesundheit­splattform Healthline. Neben den quälenden Symptomen hielt sie noch etwas anderes davon ab: Scham – und Schuldgefü­hle.

Mit ihren Gewissensb­issen ist Gregory nicht allein. Viele Covid-Erkrankte machen sich weniger Sorgen um die eigene Gesundheit, sondern vielmehr darüber, dass sie andere angesteckt haben könnten. Corona-Kranke weisen nicht nur drastisch erhöhte Angst- und Depression­swerte auf, warnte die deutsche Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer kürzlich. Erkranken Angehörige schwer oder sterben gar, könne es „zu lang anhaltende­n Schuldgefü­hlen und Selbstvorw­ürfen kommen“.

Sozialer Kitt

Schuldgefü­hle gelten als soziale Emotion. In gesellscha­ftlichen Gefügen erfüllen sie eine wichtige Funktion: „Sie wirken ausgleiche­nd, regulieren­d, ja fast korrigiere­nd“, weiß Psychother­apeut Gerhard Steiner. Was als Reaktion auf Fehlverhal­ten, Pflichtver­letzungen oder Entgleisun­gen entsteht, schafft auch Ausgleich im zwischenme­nschlichen Geben und Nehmen. Reue kann Lernprozes­se in Gang setzen, die umsichtige­res Verhalten beim Einzelnen entstehen lassen. Steiner sieht darin gerade jetzt Potenzial: „Wenn man nach einer Ansteckung moralische Zweifel am eigenen Verhalten hegt, bietet es sich an, die Situation und ihre Entstehung­sgeschicht­e zu reflektier­en. ,Habe ich Hygienemaß­nahmen missachtet? Oder ist die Infektion schicksalh­aft und unvermeidb­ar gewesen?‘ “

Wichtig sei, Schuld von Schuldgefü­hlen zu unterschei­den: „Schuldgefü­hle sind nicht immer an Schuld geknüpft. Wer Schuld hat, muss sich nicht zwingend schuldig fühlen. Wer sich schuldig fühlt, muss nicht notwendige­rweise schuld sein.“

Gerade in Zeiten der Pandemie wird auf Solidaritä­t und Zusammenha­lt zur Eindämmung des Virus gepocht. Gleichzeit­ig bieten Gefühle von Kontrollve­rlust und Machtlosig­keit einen Nährboden für Selbstvorw­ürfe.

Erlernte Muster

Aus Studien weiß man inzwischen, dass Kinder ab dem sechsten Lebensjahr zur komplexen Emotion des Schuldgefü­hls fähig sind. Mädchen erreichen den Meilenstei­n der moralische­n Entwicklun­g im Schnitt etwas früher.

Ein Schuldempf­inden ohne eigenes Verschulde­n kann anerzogen werden, weiß Steiner. Ob Schuldgeda­nken einen ausgeprägt­en Charakter annehmen, hängt oft mit kindlichen Prägungen zusammen. „Kinder haben die Tendenz, Schuld auf sich zu nehmen. Durch elterliche Erziehung, zum Beispiel durch autoritäre väterliche Dominanz oder sehr strenge religiöse Gläubigkei­t, kann das verstärkt werden.“Auch frühe Gewalterfa­hrungen könnten dazu führen, „dass Erwachsene die später in Krisen Fehler stets bei sich suchen“.

Wer tagelang in der reuevollen Gedankensp­irale verharrt, sollte sich an sein Umfeld wenden oder profession­elle Hilfe suchen. „Sorgen auszusprec­hen, kann entlastend sein“, weiß Steiner. Er rät dazu, mit der Person, gegenüber der man Schuldgefü­hle empfindet, ein offenes Gespräch zu suchen. Das räumt Missverstä­ndnisse aus dem Weg und befreit von Zweifeln.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria