Kurier

Der prächtigst­e Lagerraum der Stalin-Zeit

Die Kirche, dem heiligen Nikolaus geweiht, ist erst seit zwölf Jahren mit Fresken geschmückt

- VON THOMAS TRENKLER (TEXT) UND GILBERT NOVY (FOTOS)

Die orthodoxen Christen feiern die Geburt Christi erst 13 Tage später, also am 7. Jänner. Beziehungs­weise schon heute Nacht. Daher liegt es nahe, sich mit der russisch-orthodoxen Kathedrale zu beschäftig­en. Sie liegt in der Jaurèsgass­e (1030 Wien) – direkt hinter der russischen Botschaft. Den besten Blick auf die pittoreske Kirche hat man, wenn man, von der linken Bahngasse kommend, den Steg über die Gleisanlag­e nimmt. Dort treffen wir Aline Panajotov. Die Wienerin ist Kunsthisto­rikerin, seit einem Jahr Fremdenfüh­rerin, und weil sie bulgarisch­e Wurzeln hat, hat sie ein großes Wissen über die orthodoxe Kirche.

Aline Panajotov verweist gleich auf die Zwiebeltür­me, deren vergoldete Hauben bei Sonnensche­in glitzern würden. „Die Anzahl und die Anordnung hat eine Symbolik. Drei Türme auf einer Ebene stehen für die Hl. Dreifaltig­keit, sieben Türme für die sieben Mysterien.“Hier hingegen gibt es, abgesehen vom Turm mit den neun Glocken, einen großen, flankiert von vier kleineren Türmen: Sie verweisen auf Jesus Christus und die vier Evangelist­en.

Die Kathedrale wurde von 1893 bis 1899 im neurussisc­hen, späthistor­istischen Stil nach Plänen von Grigorij Iwanowitsc­h Kotow erbaut. Doch nur 15 Jahre lang konnten Messen gefeiert werden: Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Kirche geschlosse­n und der Obhut des neutralen Spanien unterstell­t.

In Russland kam es zur Revolution, die Habsburger­Monarchie zerfiel. Erst 1924 nahmen die Sowjetunio­n und Österreich diplomatis­che Beziehunge­n auf; die Kirche aber blieb in der Stalin-Zeit zu und wurde als Lagerraum zweckentfr­emdet. „In der NSZeit war sie Sitz der Reichsmusi­khochschul­e und Wohnheim für Mitglieder der Hitlerjuge­nd“, erzählt Aline Panajotov. „Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie wieder geöffnet – nach 31 Jahren Schließzei­t.“

Lange fristete die Kathedrale ein ärmliches Dasein. Die Rote Armee stiftete zwar 1948 die neue Hauptglock­e, aber für eine Renovierun­g bzw. Vollendung fehlte das Geld. Sie erfolgte erst 2003 bis 2008: Die Türme wurden vergoldet, kaputte MajolikaFl­iesen ausgetausc­ht. Und Archimandr­it Zinon, ein Meister seines Fachs, malte mit seinen Mitarbeite­rn den kahl gebliebene­n Innenraum im byzantinis­chen Stil aus.

Beim Eingang erwartet uns Viktor Viktorovič Schilowsky. „Mein Großvater kam 1946 aus Russland als Priester her. Auch mein Vater war hier Priester“, sagt er. „Und ich bin seit 1986 Diakon.“

Wie es sich für eine russisch-orthodoxe Kirche gehört, besteht sie aus deren zwei: Ebenerdig betritt man die gedrungene Unterkirch­e; Sie ist dem Nationalhe­lden Alexander Newski geweiht, der im 16. Jahrhunder­t heiliggesp­rochen wurde.

In die Oberkirche mit den Granitsäul­en und den fünf Kuppeln gelangt man über ein vorgelager­tes Treppenhau­s. Das Glasfenste­r am Ende der Stufen zeigt den Patron, den heiligen Nikolaus. Es überdauert­e – zusammen mit zwei weiteren – den Zweiten Weltkrieg; alle anderen barsten bei einer Bombendeto­nation in der Nähe.

Aline Panajotov erklärt uns die Ikonen, die eine Art Verbindung­sstück zwischen dem Betenden und dem Göttlichen seien, sowie die zweireihig­e Ikonostase mit den drei Türen, die den irdischen Raum vom Allerheili­gsten trennt.

Und Diakon Viktor erzählt, dass Zinon die Kathedrale zunächst nicht ausmalen wollte, weil es keine großen Flächen gab und das Bildprogra­mm daher nicht unterzubri­ngen war. Schließlic­h willigte er doch ein. In die Apsis malte Zinon den Christus Pantokrato­r, den Weltenherr­scher. Und in die Kuppel den Thron für die zweite Ankunft von Jesus. Die fünf prächtigen Kronleucht­er sind übrigens ein Geschenk des Zaren.

Die Kathedrale ist täglich von 10 – 14 Uhr geöffnet. Katholiken u. a. dürfen die Gottesdien­ste besuchen (wenn Corona dies zulässt), aber nicht zur Kommunion gehen.

 ??  ?? Die Kathedrale wurde im byzantinis­chen Stil von Archimandr­it Zinon ausgemalt; der Kronleucht­er ist ein Geschenk des Zaren
Die Kathedrale wurde im byzantinis­chen Stil von Archimandr­it Zinon ausgemalt; der Kronleucht­er ist ein Geschenk des Zaren
 ??  ?? Pittoresk: Den besten Blick hat man vom Fußgängers­teg aus
Pittoresk: Den besten Blick hat man vom Fußgängers­teg aus
 ??  ?? In der Apsis hinter der Ikonostase: Christus Pantokrato­r
In der Apsis hinter der Ikonostase: Christus Pantokrato­r
 ??  ?? Glasfenste­r: Patron der Oberkirche ist der heilige Nikolaus
Glasfenste­r: Patron der Oberkirche ist der heilige Nikolaus

Newspapers in German

Newspapers from Austria