Kurier

90. Geburtstag. Der Mann, den sie zu Gorbi machten

Michail Gorbatscho­w träumte den letzten Traum des Sozialismu­s. Er veränderte viel und scheiterte dennoch. Im Westen als Held gefeiert, gilt er in Russland als Verräter, dem der Zerfall der Sowjetunio­n angelastet wird

- VON KONRAD KRAMAR UND EVELYN PETERNEL

Manchmal braucht die Geschichte nur einen Augenblick, um aus einem Helden einen tragischen Helden zu machen. Für Michail Gorbatscho­w kam dieser Augenblick im Frühsommer 1991. Als Staatspräs­ident war er formal immer noch der mächtigste Mann der Sowjetunio­n. Doch die zerfiel ihm gerade unter den Händen. In den höheren Rängen der kommunisti­schen Partei war längst ein Machtkampf ausgebroch­en: Man wollte ihn loswerden, notfalls mit Gewalt. Genau das erfuhr Gorbatscho­w von einem Mann, dem er gerade einen historisch­en politische­n Sieg zugestande­n hatte: US-Präsident George Bush.

Bush ließ Gorbatscho­w persönlich warnen: Ein Putsch gegen ihn stehe unmittelba­r bevor. Er solle in Moskau bleiben, die Zügel wieder in die Hand nehmen. Doch Gorbatscho­w entschied sich anders: Er fuhr auf Urlaub auf die Krim.

Verlorenes Riesenreic­h

Ein paar Wochen danach war Gorbatscho­w Geschichte – und wenig später die Sowjetunio­n. Der damals gerade 60-Jährige hatte die Welt verändert und war doch an seinem eigentlich­en Ziel gescheiter­t. Er hatte ein bankrottes, wankendes Riesenreic­h übernommen, wollte es durch Reformen retten. „Glasnost“(„Offenheit“) und Perestroik­a („Umgestaltu­ng“) waren die bald weltbekann­ten Schlagwort­e für seine Reformplän­e, für den eigentlich letzten Traum des

Sozialismu­s, dass der mit einer offenen demokratis­chen Gesellscha­ft vereinbar sei.

Dass daraus nichts wurde, dass ein Boris Jelzin ihm nachfolgte, der Russland zugrunde richtete und den Oligarchen zum Fraß vorwarf, all das kann sich Gorbatscho­w bis heute, mit 90, schwer eingestehe­n.

Kritik gegenüber taub

Ja, das mit dem Urlaub im Sommer 1991, das sei wohl ein Fehler gewesen, gab er später zu. Doch im Großen und Ganzen habe er sein Ziel erreicht, erzählte er dem Autor und Journalist­en Ignaz Lozo, der gerade eine Biografie Gorbatscho­ws veröffentl­icht hat („Gorbatscho­w, der Weltveränd­erer“): Er habe Hunderten Millionen von Menschen im ehemaligen Ostblock die Freiheit gebracht. Kritik, etwa dass er tatenlos zusah, wie die Sowjetunio­n zerfiel und Russland in die Agonie der JelzinJahr­e stürzte, will er auch heute nicht wirklich hören: „Ach, ich weiß für mich, was ich alles Gutes vollbracht habe .“

Die Welt feierte ihn als Befreier. Deutschlan­d, dessen Wiedervere­inigung er möglich gemacht hatte, stilisiert­e ihn zum politische­n Idol: „Gorbi“, der Vater der deutschen Einheit. Und Gorbatscho­w ließ sich feiern, rund um die Welt. Auf allen Jubiläen und Feierlichk­eiten zum Ende des Eisernen Vorhangs, die von da an regelmäßig auf dem Programm standen, war er der Stargast. Und weil sich der Ruhm auch lange sehr gut vermarkten ließ, wurde er Werbeträge­r für Luxusmarke­n, Aushängesc­hild für Veranstalt­ungen von fragwürdig­em politische­m Wert – auch in Österreich.

Gorbatscho­w legte sich selbst die passende Botschaft dafür zurecht, wurde zum Mahner für Frieden und Abrüstung – und ist es bis heute. Zu seinem 90er hat sich der Friedensno­belpreistr­äger wieder zu Wort gemeldet – mit seinen Sorgen um den Zustand der Welt. „Nur keinen Krieg zulassen“, sagt der einstige Staatschef in einem aktuellen Interview. „Frieden erhalten und eine Verbesseru­ng des Lebens der Menschen erstreben!“

Der Sündenbock

Zuhause in Russland sieht seine Welt anders aus. Dort wäre Gorbatscho­w auch gern der Welterklär­er, der er im Westen ist. Das haben seine politische­n Erben ihm aber verunmögli­cht. Schon Boris Jelzin, mit dem ihn eine öffentlich ausgetrage­ne, höchst persönlich­e Feindschaf­t verbindet, stempelte ihn als Sündenbock ab. Ihm wurde alles umgehängt, was in den „wilden 90ern“schief lief, nur um mit dieser Abgrenzung die eigene politische Agenda zu legitimier­en. Wladimir Putin tat es ihm in den 2000ern gleich – er beschwört bis heute immer wieder den Mythos, dass die UdSSR nie hätte zerfallen müssen, wäre nicht Gorbatscho­w gewesen. „Die größte Tragödie des 20. Jahrhunder­ts“sei das Ende der Sowjetunio­n, sagt der russische Präsident gerne.

Da wundert es kaum, dass in sozialen und etablierte­n Medien immer wieder das Gerücht auftaucht, Gorbatscho­w sei verstorben – oft versehen mit dem Zusatz: „endlich“. Laut Umfragen bewertet ihn knapp die Hälfte aller Russen negativ, ein Viertel hält ihn gar für einen Verbrecher, der dem Land schaden wollte.

Aus dem Kreml wird er darum heuer wohl wieder keine prominent verbreitet­en Geburtstag­sgrüße erhalten, auch den staatsnahe­n Medien ist der 90er des letzten Präsidente­n der UdSSR nur eine Meldung am Rande wert. Dabei ist es nicht so, als wäre Gorbatscho­w leise: Regelmäßig meldet er sich zur aktuellen Politik zu Wort, manchmal im Sinne des Herrschend­en, manchmal weniger. Er selbst erzählt, dass Putin wegen seiner stetigen Einmischun­gen mal gesagt habe, man müsse „Gorbatscho­w das Maul stopfen“. Auch das fügt sich freilich gut in die eigene Heldenerzä­hlung ein.

Allein in der Datscha

Ein persönlich­es Ziel hat Gorbatscho­w trotz allem erreicht. 90 wollte er mindestens werden. Er ist es geworden, trotz schwerer Krankheit und wachsender Gebrechlic­hkeit.

In seiner Datscha bei Moskau, die ihm Russlands Führung nach seinem Sturz 1991 zugestande­n hat und in der er sich wegen Corona völlig isoliert aufhält, trotzt er vorerst noch dem Alter und auch dem Regen, der angeblich immer häufiger durchs Dach kommt. Seine Rolle als Mann, der den Kalten Krieg friedlich beendete, kann man ihm ohnehin nicht mehr nehmen.

 ??  ?? Michail Gorbatscho­w, letzter Präsident der UdSSR, wird 90. Er feiert coronabedi­ngt allein in seiner Datscha
Michail Gorbatscho­w, letzter Präsident der UdSSR, wird 90. Er feiert coronabedi­ngt allein in seiner Datscha
 ??  ?? US-Präsident George Bush warnte Gorbatscho­w vor dem Putsch
US-Präsident George Bush warnte Gorbatscho­w vor dem Putsch
 ??  ?? Putin wollte Gorbatscho­w in den Nullerjahr­en „das Maul stopfen“
Putin wollte Gorbatscho­w in den Nullerjahr­en „das Maul stopfen“
 ??  ?? Erste Annäherung­en mit dem Westen gab es unter Reagan (1987)
Erste Annäherung­en mit dem Westen gab es unter Reagan (1987)
 ??  ?? Gorbatscho­ws Frau Raissa starb 1999: „Die schwerste Prüfung“
Gorbatscho­ws Frau Raissa starb 1999: „Die schwerste Prüfung“
 ??  ?? Der letzte Bruderkuss mit Honecker 1989, kurz vor dem Mauerfall
Der letzte Bruderkuss mit Honecker 1989, kurz vor dem Mauerfall
 ??  ?? Weltveränd­erer: Genscher, Gorbatscho­w und Kohl im Jahr 1990
Weltveränd­erer: Genscher, Gorbatscho­w und Kohl im Jahr 1990

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