Politik darf nicht krank machen
Mit Rudolf Anschober geht einer der zentralen Minister. Sein Nachfolger, der Arzt Wolfgang Mückstein, ist politisch ein eher unbeschriebenes Blatt. Weiß er, worauf er sich da einlässt? Die „Verglühungsgefahr“ist groß, auch wenn Expertenregierungen theoretisch beliebt sind. In der Praxis – und gerade jetzt – sind jedoch politische Vollprofis gefragt.
Der Rücktritt gibt jedenfalls zu denken. Der Druck in der Politik hat in der Pandemie ein ungesundes Ausmaß angenommen. Anschober ist international nicht der erste Gesundheitsminister, der erschöpft aufgibt.
Die Aggressionen, stark geschürt in den sozialen Netzwerken, gipfeln mittlerweile selbst auf der einstigen „Insel der Seligen“Österreich in Morddrohungen gegen Minister und Experten. Die Geister, die da auch von den Oppositionsparteien gerufen wurden, werden wir nicht mehr so schnell los. Der Grundtenor auf Twitter gegenüber der Regierung ist geradezu hasserfüllt. Jetzt werden dort viele heuchlerische Krokodilstränen vergossen.
Anschober hat im Abgang noch einmal seine Stärken gezeigt: Er ist sozialkompetent, sympathisch und reflektiert, wollte sich eigentlich um Anliegen wie Aufwertung des Pflegeberufs, Tierschutz, Bekämpfung der Altersarmut bei Frauen kümmern. Aber er galt auch als entscheidungsschwach und zögerlich, betrieb Mikromanagement, etliche vakante Posten besetzte er zu spät. Durch die mangelhafte juristische Qualität des Ministeriums gab es unnötig viele fehlerhafte Verordnungen. Den Kanzler machte dieser bedächtige, einzelgängerische Stil nervös. Dass sich Anschober bei allen außer beim Koalitionspartner bedankte, war ein wenig kleinlich und zeigt, wie sehr ihn die Kritik von dieser Seite getroffen hat.
Schade, dass der Kanzler den Rücktritt nicht zum Anlass für eine Regierungsumbildung genommen hat. Das Gesundheits-, Sozial-, Pflege- und Konsumentenschutzministerium ist auch ohne Pandemie viel zu groß. Man hätte es teilen oder zumindest mit einem Staatssekretär versehen können. Ein Staatssekretär fehlt auch im Finanzressort. Und dass die Kompetenz für die Industrie auf viele Ministerien zersplittert ist, ohne dass sich eines explizit dafür zuständig fühlt, ist beunruhigend. Österreichs Wirtschaft ist mehr als andere Länder von der Jahrhundertseuche getroffen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau wird die nächste riesige Herausforderung. Auch wenn mit dem Ökonomen Martin Kocher ein Top-Experte dazugekommen ist, fragt man sich, ob die Regierung die Kraft für unpopuläre Strukturreformen hat.
Die 15 Monate hätten sich wie 15 Jahre angefühlt, sagte Anschober in der Abschiedspressekonferenz. Seinem Nachfolger muss man Kraft, gute Nerven und eine steile Lernkurve wünschen. Alle sollten aus dem Abgang lernen: Politik darf nicht krank machen.
Anschobers Abgang stimmt nachdenklich: Die Aggressionen gegen Politiker sind zu groß. Der Neue braucht Kraft und eine steile Lernkurve