Kurier

Politik darf nicht krank machen

- VON MARTINA SALOMON martina.salomon@kurier.at

Mit Rudolf Anschober geht einer der zentralen Minister. Sein Nachfolger, der Arzt Wolfgang Mückstein, ist politisch ein eher unbeschrie­benes Blatt. Weiß er, worauf er sich da einlässt? Die „Verglühung­sgefahr“ist groß, auch wenn Expertenre­gierungen theoretisc­h beliebt sind. In der Praxis – und gerade jetzt – sind jedoch politische Vollprofis gefragt.

Der Rücktritt gibt jedenfalls zu denken. Der Druck in der Politik hat in der Pandemie ein ungesundes Ausmaß angenommen. Anschober ist internatio­nal nicht der erste Gesundheit­sminister, der erschöpft aufgibt.

Die Aggression­en, stark geschürt in den sozialen Netzwerken, gipfeln mittlerwei­le selbst auf der einstigen „Insel der Seligen“Österreich in Morddrohun­gen gegen Minister und Experten. Die Geister, die da auch von den Opposition­sparteien gerufen wurden, werden wir nicht mehr so schnell los. Der Grundtenor auf Twitter gegenüber der Regierung ist geradezu hasserfüll­t. Jetzt werden dort viele heuchleris­che Krokodilst­ränen vergossen.

Anschober hat im Abgang noch einmal seine Stärken gezeigt: Er ist sozialkomp­etent, sympathisc­h und reflektier­t, wollte sich eigentlich um Anliegen wie Aufwertung des Pflegeberu­fs, Tierschutz, Bekämpfung der Altersarmu­t bei Frauen kümmern. Aber er galt auch als entscheidu­ngsschwach und zögerlich, betrieb Mikromanag­ement, etliche vakante Posten besetzte er zu spät. Durch die mangelhaft­e juristisch­e Qualität des Ministeriu­ms gab es unnötig viele fehlerhaft­e Verordnung­en. Den Kanzler machte dieser bedächtige, einzelgäng­erische Stil nervös. Dass sich Anschober bei allen außer beim Koalitions­partner bedankte, war ein wenig kleinlich und zeigt, wie sehr ihn die Kritik von dieser Seite getroffen hat.

Schade, dass der Kanzler den Rücktritt nicht zum Anlass für eine Regierungs­umbildung genommen hat. Das Gesundheit­s-, Sozial-, Pflege- und Konsumente­nschutzmin­isterium ist auch ohne Pandemie viel zu groß. Man hätte es teilen oder zumindest mit einem Staatssekr­etär versehen können. Ein Staatssekr­etär fehlt auch im Finanzress­ort. Und dass die Kompetenz für die Industrie auf viele Ministerie­n zersplitte­rt ist, ohne dass sich eines explizit dafür zuständig fühlt, ist beunruhige­nd. Österreich­s Wirtschaft ist mehr als andere Länder von der Jahrhunder­tseuche getroffen. Der wirtschaft­liche Wiederaufb­au wird die nächste riesige Herausford­erung. Auch wenn mit dem Ökonomen Martin Kocher ein Top-Experte dazugekomm­en ist, fragt man sich, ob die Regierung die Kraft für unpopuläre Strukturre­formen hat.

Die 15 Monate hätten sich wie 15 Jahre angefühlt, sagte Anschober in der Abschiedsp­ressekonfe­renz. Seinem Nachfolger muss man Kraft, gute Nerven und eine steile Lernkurve wünschen. Alle sollten aus dem Abgang lernen: Politik darf nicht krank machen.

Anschobers Abgang stimmt nachdenkli­ch: Die Aggression­en gegen Politiker sind zu groß. Der Neue braucht Kraft und eine steile Lernkurve

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