„Cannes wird die Rückkehr zur Kultur“
Festivaldirektor Thierry Frémaux über den Wert des Kinos, Netflix und Events nach der Pandemie
Seit 2004 ist Thierry Frémaux Direktor des Cannes-Filmfestivals. Mit dem KURIER spricht der 60-Jährige über Film, Streaming und was uns bei den Festspielen erwartet.
KURIER: Die Streamingplattformen wurden ja während der Pandemie immer mächtiger. Wie reagieren Sie als Festivaldirektor von Cannes darauf, nachdem Sie der erste waren, der Netflix einlud und danach einen Krieg mit den Verleihern führte? Wie denken die Filmemacher darüber?
Thierry Frémaux: Mein Freund Quentin Tarantino hat mich immer davor gewarnt, dass TV Film ersetzen könnte, und ich sagte immer „du bist zu pessimistisch, weil du Amerikaner bist“. Aber vielleicht bin ich ja auch zu optimistisch, weil ich Franzose bin. In Frankreich sind wir zutiefst davon überzeugt, dass es einen Riesenunterschied macht, ob man sich einen Film im Kino oder auf dem Bildschirm ansieht. Netflix und Apple und all die anderen mögen guten und immer besseren Content produzieren, aber am Ende sind sie Fernsehplattformen. In Frankreich kämpfen wir um das Überleben des Kinos, denn wir glauben an die noble Idee, dass ein Film es verdient, auf der großen Leinwand gezeigt zu werden. Ich sagte das aus meiner Perspektive, aber ich bin mir nicht sicher, dass junge Leute das genauso sehen.
Werden Netflix und Co. beim heurigen Cannes-Festival stärker vertreten sein, weil es für viele Filmemacher keine andere Möglichkeit gab, ihre Werke herauszubringen?
Wir können gerade in diesem Jahr Filmemacher wirklich nicht dafür bestrafen, dass es gar keine andere Wahl gab, als ihre Filme bei und mit den Streamingplattformen zu machen. Seit 2017 führe ich da Diskussionen, und natürlich wusste ich, dass es einen Skandal auslösen würde, als ich Netflix zuließ. Und ich hatte den Kampf mit den Kinobesitzern in Frankreich. Und wir fanden einen Kompromiss, dass jeder Film, der im Wettbewerb läuft, in Frankreich zuerst in den Kinos herauskommen muss. Außerhalb des Wettbewerbs ist es eine andere Situation. Viele Hollywoodstudios wollen gar nicht in den Bewerb, die wollen nur die große Gala. Aber mein Freund Ted Sarandos,
der Netflix-Chef, will die Palm d’Or, er will den Golden Globe, er will den Oscar. Netflix glaubt, dass wir ihnen eine Legitimität geben.
Sie hatten Spike Lee im vergangenen Jahr als Jurypräsident bestätigt, und dann gab es kein Festival. Bringen Sie ihn nun zurück?
Ja. Wir hatten noch nie einen Schwarzen als Jurypräsident, was schade ist, und deshalb ist mir das auch wichtig. Abgesehen davon, dass ich ein großer Fan von Spike Lee bin und im letzten Jahr auch vorhatte, sein „Da 5 Bloods“außerhalb des Bewerbs zu spielen, weil ja ein Juror keinen Film im Bewerb haben darf.
Und „Da 5 Bloods“ein Netf lix-Film ist.
Und das, richtig.
Wie sehen Sie die Zukunft von Filmfestivals?
Wir haben im letzten Jahr auf Kino und Festivals verzichten müssen, und das ist ungeheuer traurig. Für die Veranstalter, die Filmemacher, die Kritiker und alle Filmfans sind Festivals sehr wichtig. Cannes feiert im Juli sein Comeback und die anderen werden hoffentlich folgen. Ich hasse die Idee eines virtuellen, digitalen Festivals. Die Menschen müssen zusammenkommen, in einem Raum sein, gemeinsam feiern. Mit dabei sein, wenn aus einem unbekannten Regisseur innerhalb von zwei Stunden nach der Premiere ein Star wird. Das ist die Magie von Filmfestivals. Das kann man nicht auf einer Streaming-Plattform replizieren.
Was erwartet uns im Juli in Cannes?
Wir werden das gesamte Programm Ende Mai bekannt geben. Bis jetzt ist nur klar, dass wir Wes Andersons und Paul Verhoevens Filme vom letzten Jahr, die nicht herauskamen, zeigen werden. Ich hoffe, dass die Kinos wirklich Mitte Mai aufmachen, wie Emmanuel Macron gesagt hat. Das ist Voraussetzung. Wir sind dann Anfang Juli dran und werden das erste große, weltweite Event nach der Pandemie sein. Was mich glücklich machen würde ist, dass wir wieder gemeinsame Dinner haben können, am selben Tisch sitzen, die Filmemacher, die Kritiker, das Publikum in einem Kino. Cannes ist heuer so wichtig, weil es die Rückkehr zur Kultur bedeutet.
„Wir werden das erste große, weltweite Event nach der Pandemie sein“
Thierry Frémaux, Festivalchef in Cannes
„Ich hasse die Idee eines virtuellen, digitalen Festivals. Menschen müssen zusammenkommen“
Thierry Frémaux, Festivalchef in Cannes