Video-Brille hilft Demenz frühzeitig zu erkennen
Bewährte Testverfahren werden zu neuem System kombiniert
„Testverfahren sinnvoll und effektiv miteinander zu verbinden, dafür gab es bislang keine Möglichkeit“
Wolfgang Staubmann Dozent an der FH Joanneum
„In der augmentierten Version werden Zahlen und Buchstaben in einer 3-D-Kugelform angezeigt “
Wolfgang Staubmann Dozent an der FH Joanneum
Der Haustürschlüssel ist verschwunden, die Personen auf den Fotos sind fremd und das Wohngebiet wirkt beim Blick aus dem Fenster unbekannt. Demenz – mit Alzheimer als häufigste Form – ist eine Volkskrankheit, die immer weiter voranschreitet. In Österreich leben laut dem Österreichischen Demenzbericht geschätzte 115.000 bis 130.000 Menschen mit irgendeiner Form von Demenz. Prognosen zufolge soll sich diese Zahl bis 2050 aufgrund der steigenden Lebenserwartung sogar verdoppeln. Gleichzeitig sinkt für Betroffene die Lebensqualität.
Wird Demenz aber früh erkannt, können Therapien rasch eingeleitet und das Fortschreiten der Krankheit signifikant verzögert werden. Denn auch wenn sie sich klinisch noch nicht manifestiert hat, können bestimmte Symptome wie eine abgeschwächte Riechleistung, Unsicherheiten beim Gehen oder Änderungen von alltäglichen Prozessabläufen auf eine Demenzerkrankung hindeuten.
Tests mit Technologie
Je nach Disziplin werden unterschiedliche Hinweise mithilfe einzelner Testverfahren untersucht. „Die Testverfahren sinnvoll und effektiv miteinander zu verbinden, dafür gab es bislang keine Möglichkeit“, sagt Wolfgang Staubmann von der FH Joanneum in Graz gegenüber dem KURIER.
Aus diesem Grund haben er und sein Forschungsteam ein Screeningsystem namens SCOBES-AR (Smart Cognition and Behaviour Screening powered by Augmented Reality) entwickelt, das auf einzelne Testverfahren aus unterschiedlichen Bereichen wie Ergo- und Physiotherapie, Diätologie oder Psychologie basiert. Damit werden im Rahmen des von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) geförderten Projekts unterschiedliche Parameter und Risikofaktoren für Menschen ab 60 Jahren fachübergreifend zu einem Screening-Instrument zusammengefasst.
Neben schriftlichen Tests stehen Technologien wie Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR) im Zentrum des Forschungsprojekts. Während Letzteres ein digitales, computerbasiertes Abbild der Realität meint, ist Ersteres eine Zusammensetzung der digitalen und der analogen Welt.
Einkaufen nachgestellt
Unter anderem wird eine Einkaufssituation per VR-Brille nachgestellt, die auf dem klassischen, sogenannten ETAM-Test („Erlangen Test of Activities of daily living in Mild dementia or Mild cognitive Impairment“) basiert. „Der Proband muss im Einkaufsladen bestimmte Aufgaben erfüllen, wie Produkte aus dem Regal nehmen oder Geld zählen“, sagt der Forschungsleiter Staubmann. Per AR-Anwendung kann der Proband auch eine reale Verkehrssituation bewerten, die in Form von einem 360-GradVideo dargestellt wird. Beim „Trail-Making-Test“wiederum, der normalerweise am Papier durchgeführt wird, müssen Zahlen und Buchstaben alternierend in aufsteigender Reihenfolge miteinander verbunden werden.
„In der augmentierten Version werden die Zahlen und Buchstaben in einer 3-DKugelform angezeigt. Die Person kann die einzelnen Punkte über Bewegung auswählen“, sagt Staubmann. Der Vorteil dabei sei, dass so auch generiert werden könne, wie lange jemand für den Test benötigt und wie hoch die Fehlerquote ist.
Therapien früh einleiten
Neben diesen Testverfahren wurden im Prototypen auch eine Reihe an allgemeinen Risikofaktoren erhoben, wie Demenzfälle in der Familie oder Ernährungs- und Bewegungsverhalten. Dass ein kognitiver Abbau bei diesem System durch eine kurzweilige starke Konzentration während der Testung unbemerkt bleibt, wie es bei konventionellen einzelnen Testverfahren möglich ist, ist grundsätzlich auszuschließen. Denn dies werde bei diesem System durch die breite Palette an unterschiedlichen Tests enorm erschwert. Im Rahmen einer regelmäßigen Vorsorgeuntersuchung könne das Risiko weiter reduziert werden.
Individuelle Intervention
Auffälligkeiten aus einzelnen Bereichen hingegen müssten Staubmann zufolge gezielt beobachtet werden: „Man hat aus Studien gesehen, dass Nicht-Pharmakologische Interventionen – dazu gehören etwa Bewegung, Gedächtnistraining oder Ernährung – nur zu einem gewissen Teil wirklich wirksam sind.“Der Grund: Bewegungsempfehlungen etwa seien generalisiert und für Einzelpersonen oft nicht umsetzbar. „Man muss individuell auf sie eingehen“, sagt Staubmann. Derartige individualisierte Interventionskonzepte sind ebenfalls Gegenstand des Forschungsprojekts.
Die notwendigen Testverfahren wurden Staubmann zufolge in einer Studie mit mehr als 300 Probanden zwischen 60 und 65 Jahren validiert. Aktuell werde der Prototyp finalisiert und Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres bei 100 Personen der gleichen Zielgruppe getestet, um bei Bedarf Optimierungen vornehmen zu können. Ziel ist es, das Früherkennungssystem SCOBES-AR künftig unter anderem in Ambulanzen und Seniorenheimen zur Verfügung zu stellen.
Diese Serie erscheint in redaktioneller Unabhängigkeit mit finanzieller Unterstützung der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG).