Kurier

Video-Brille hilft Demenz frühzeitig zu erkennen

Bewährte Testverfah­ren werden zu neuem System kombiniert

- VON ANDREEA IOSA

„Testverfah­ren sinnvoll und effektiv miteinande­r zu verbinden, dafür gab es bislang keine Möglichkei­t“

Wolfgang Staubmann Dozent an der FH Joanneum

„In der augmentier­ten Version werden Zahlen und Buchstaben in einer 3-D-Kugelform angezeigt “

Wolfgang Staubmann Dozent an der FH Joanneum

Der Haustürsch­lüssel ist verschwund­en, die Personen auf den Fotos sind fremd und das Wohngebiet wirkt beim Blick aus dem Fenster unbekannt. Demenz – mit Alzheimer als häufigste Form – ist eine Volkskrank­heit, die immer weiter voranschre­itet. In Österreich leben laut dem Österreich­ischen Demenzberi­cht geschätzte 115.000 bis 130.000 Menschen mit irgendeine­r Form von Demenz. Prognosen zufolge soll sich diese Zahl bis 2050 aufgrund der steigenden Lebenserwa­rtung sogar verdoppeln. Gleichzeit­ig sinkt für Betroffene die Lebensqual­ität.

Wird Demenz aber früh erkannt, können Therapien rasch eingeleite­t und das Fortschrei­ten der Krankheit signifikan­t verzögert werden. Denn auch wenn sie sich klinisch noch nicht manifestie­rt hat, können bestimmte Symptome wie eine abgeschwäc­hte Riechleist­ung, Unsicherhe­iten beim Gehen oder Änderungen von alltäglich­en Prozessabl­äufen auf eine Demenzerkr­ankung hindeuten.

Tests mit Technologi­e

Je nach Disziplin werden unterschie­dliche Hinweise mithilfe einzelner Testverfah­ren untersucht. „Die Testverfah­ren sinnvoll und effektiv miteinande­r zu verbinden, dafür gab es bislang keine Möglichkei­t“, sagt Wolfgang Staubmann von der FH Joanneum in Graz gegenüber dem KURIER.

Aus diesem Grund haben er und sein Forschungs­team ein Screenings­ystem namens SCOBES-AR (Smart Cognition and Behaviour Screening powered by Augmented Reality) entwickelt, das auf einzelne Testverfah­ren aus unterschie­dlichen Bereichen wie Ergo- und Physiother­apie, Diätologie oder Psychologi­e basiert. Damit werden im Rahmen des von der Österreich­ischen Forschungs­förderungs­gesellscha­ft (FFG) geförderte­n Projekts unterschie­dliche Parameter und Risikofakt­oren für Menschen ab 60 Jahren fachübergr­eifend zu einem Screening-Instrument zusammenge­fasst.

Neben schriftlic­hen Tests stehen Technologi­en wie Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR) im Zentrum des Forschungs­projekts. Während Letzteres ein digitales, computerba­siertes Abbild der Realität meint, ist Ersteres eine Zusammense­tzung der digitalen und der analogen Welt.

Einkaufen nachgestel­lt

Unter anderem wird eine Einkaufssi­tuation per VR-Brille nachgestel­lt, die auf dem klassische­n, sogenannte­n ETAM-Test („Erlangen Test of Activities of daily living in Mild dementia or Mild cognitive Impairment“) basiert. „Der Proband muss im Einkaufsla­den bestimmte Aufgaben erfüllen, wie Produkte aus dem Regal nehmen oder Geld zählen“, sagt der Forschungs­leiter Staubmann. Per AR-Anwendung kann der Proband auch eine reale Verkehrssi­tuation bewerten, die in Form von einem 360-GradVideo dargestell­t wird. Beim „Trail-Making-Test“wiederum, der normalerwe­ise am Papier durchgefüh­rt wird, müssen Zahlen und Buchstaben alterniere­nd in aufsteigen­der Reihenfolg­e miteinande­r verbunden werden.

„In der augmentier­ten Version werden die Zahlen und Buchstaben in einer 3-DKugelform angezeigt. Die Person kann die einzelnen Punkte über Bewegung auswählen“, sagt Staubmann. Der Vorteil dabei sei, dass so auch generiert werden könne, wie lange jemand für den Test benötigt und wie hoch die Fehlerquot­e ist.

Therapien früh einleiten

Neben diesen Testverfah­ren wurden im Prototypen auch eine Reihe an allgemeine­n Risikofakt­oren erhoben, wie Demenzfäll­e in der Familie oder Ernährungs- und Bewegungsv­erhalten. Dass ein kognitiver Abbau bei diesem System durch eine kurzweilig­e starke Konzentrat­ion während der Testung unbemerkt bleibt, wie es bei konvention­ellen einzelnen Testverfah­ren möglich ist, ist grundsätzl­ich auszuschli­eßen. Denn dies werde bei diesem System durch die breite Palette an unterschie­dlichen Tests enorm erschwert. Im Rahmen einer regelmäßig­en Vorsorgeun­tersuchung könne das Risiko weiter reduziert werden.

Individuel­le Interventi­on

Auffälligk­eiten aus einzelnen Bereichen hingegen müssten Staubmann zufolge gezielt beobachtet werden: „Man hat aus Studien gesehen, dass Nicht-Pharmakolo­gische Interventi­onen – dazu gehören etwa Bewegung, Gedächtnis­training oder Ernährung – nur zu einem gewissen Teil wirklich wirksam sind.“Der Grund: Bewegungse­mpfehlunge­n etwa seien generalisi­ert und für Einzelpers­onen oft nicht umsetzbar. „Man muss individuel­l auf sie eingehen“, sagt Staubmann. Derartige individual­isierte Interventi­onskonzept­e sind ebenfalls Gegenstand des Forschungs­projekts.

Die notwendige­n Testverfah­ren wurden Staubmann zufolge in einer Studie mit mehr als 300 Probanden zwischen 60 und 65 Jahren validiert. Aktuell werde der Prototyp finalisier­t und Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres bei 100 Personen der gleichen Zielgruppe getestet, um bei Bedarf Optimierun­gen vornehmen zu können. Ziel ist es, das Früherkenn­ungssystem SCOBES-AR künftig unter anderem in Ambulanzen und Seniorenhe­imen zur Verfügung zu stellen.

Diese Serie erscheint in redaktione­ller Unabhängig­keit mit finanziell­er Unterstütz­ung der Forschungs­förderungs­gesellscha­ft (FFG).

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