Kurier

Warum Schweden in zwei Wochen komplett öffnet

Der Epidemiolo­ge Anders Tegnell im Interview über seinen umstritten­e Corona-Kurs

- JONAS EKSTROMER

Anders Tegnell gibt internatio­nalen Journalist­en kaum Interviews. Der Chefepidem­iologe aus Stockholm gilt als Erfinder des „Schwedisch­en Weges“in der Corona-Bekämpfung. Im skandinavi­schen Land gab es keine Lockdowns, keine Maskenpfli­cht, Schulen für kleine Kinder blieben durchgehen­d offen. Sein Weg ist jedoch umstritten: Schweden verzeichne­t pro Kopf sieben Mal mehr Corona-Tote als die beiden Nachbarlän­der Norwegen und Finnland. Auch ein Wirtschaft­seinbruch konnte nicht verhindert werden. Spricht man auf Stockholms Straßen mit den Menschen über Tegnell, ist er für viele jedoch ein Held: „Während ganz Europa geschlosse­n war, hatten wir hier den Himmel auf Erden“, sagt eine Busfahreri­n zum KURIER. Auch Tegnell verteidigt im KURIER-Interview seinen Weg.

KURIER: Österreich und Schweden haben aktuell gleich hohe Infektions­zahlen. In Österreich wird verschärft, Sie heben am 29. September fast alle Beschränku­ngen auf. Ist das nicht zu gefährlich? Anders Tegnell: Wir schauen nicht nur auf die Infektions­zahlen. Wichtig sind die Intensivbe­tten, und da sind nur 15 bis 20 Prozent mit Corona-Patienten belegt. Außerdem haben wir bei den über 16-Jährigen fast 90 Prozent Durchimpfu­ng. Da können wir auch für große Events oder Restaurant­s die Maßnahmen aufheben. Der Verlauf der Pandemie folgt dem Szenario, wie wir uns das gedacht haben.

Dennoch ist die Sterblichk­eit im Vergleich zu anderen Ländern höher. Können Sie das verantwort­en?

Das stimmt nicht ganz. Im Vergleich zu unseren nordischen Nachbarn haben Sie recht, aber die sind außergewöh­nlich gut. Aber wenn man unsere Sterblichk­eit mit Ländern wie Frankreich oder Deutschlan­d vergleicht, wo es härteste Lockdowns gab, sieht man, dass wir hier nicht weit auseinande­rliegen. Durch unseren Weg haben wir viele negative Effekte wie etwa die Belastung der mentalen Gesundheit der Bevölkerun­g hintanhalt­en können. Schweden hat bei den Todeszahle­n und Infektione­n keine herausrage­nd negative Stellung.

Sie haben auch gesagt: „In Schweden trägt man keine Masken“. Fast die ganze Welt sieht das anders. Warum? Masken haben nicht den großen Effekt, der immer behauptet wird. Wir haben gerade in einer

Studie aus Bangladesc­h gesehen, dass Makenpflic­ht die Infektions­zahlen nur um zehn Prozent senkt, obwohl die Menschen dort sehr eng zusammenle­ben.

Keine Sorge vor einer gewaltigen vierten Welle?

Je mehr Menschen infiziert sind, desto langsamer breitet sich das Virus aus ...

... das kann ich nicht nachvollzi­ehen. Es gibt doch exponentie­lles Wachstum?

Das hat nur für die erste Phase

der Pandemie, für die erste Welle gegolten. Bei hohem Impfstatus ist das anders.

Sie sind ein Befürworte­r der Impfung?

Ja, nur sie kann die Pandemie irgendwann beenden. Die Impfung schützt sehr gut vor schwerer Erkrankung, nicht so gut vor Ansteckung und Übertragun­g.

Soll man auch jüngere Kinder impfen lassen? In Schweden wird das für unter 16-Jährige noch nicht empfohlen?

Wir prüfen das gerade. Klar ist, dass die Abwägung zwischen Nutzen und Risiko einer Impfung bei jungen Kindern anders aussieht als bei älteren Menschen.

Bei welchen Bevölkerun­gsgruppen ist die Impfskepsi­s in Schweden besonders groß? Grundsätzl­ich haben wir in Schweden eine hohe Zustimmung zu Impfungen. Das ist über 50 Jahre mit vertrauens­bildendend­en Maßnahmen aufgebaut worden. Daher ist die Impf bereitscha­ft bei jenen Menschen, die nicht in Schweden geboren wurden am geringsten. Und bei den jungen Menschen. Aber wir werden die Quote weiter erhöhen.

Was ist falsch gelaufen?

(Tegnell denkt lange nach). Wir hätten die älteren Menschen in den Heimen besser schützen können und mehr medizinisc­he Geräte gebraucht. Aber die nächste Pandemie wird sicher wieder ganz anders sein. Man kann nie alles genau wissen.

Für viele Rechte in Europa, die gegen Einschränk­ungen sind, sind Sie ein Held. Stört Sie das?

Das ist interessan­t. In Schweden werde ich von den Rechten kritisiert, weil wir lockerer sind, weil wir das Gesamtwohl im Blick haben. Das ist ein Zugang der linken Parteien. Ich will für niemanden ein Held sein, schon gar nicht ein politische­r Held.

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